Zwölf Wasser
die dunkelblauen Augen Mendrons. In ihnen war keine Frage, er wusste sehr gut, um was es Estrid ging. Er beugte sich zu ihr, nach wie vor lächelnd, sagte aber mit gesenkter Stimme: »Ich bitte Euch – nicht hier und nicht jetzt.«
Der goldene Ring blitzte auf, er hatte nach Wein gewunken und ein Diener stürzte herbei. Unbeweglich wie eine Statue hingegen stand einige Schritte hinter dem Sessel des Fürsten der Leibgardist Sardes. Über ihn hatte Belendra gesagt, er sei so alt, dass er praktisch schon tot wäre, und mehr müsse Estrid nicht über ihn wissen. Das war eine Bevormundung, eine von vielen. Estrid durfte nur wissen, was andere ihr sagten, durfte lesen, was ihr vorgelegt wurde, musste anziehen, in was man sie hineinsteckte – und sollte schweigen just in dem Augenblick, in dem sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte. Aber das konnte sie nicht mehr.
»Wann, wenn nicht jetzt?«, fragte sie aufbrausend. »Wann werde ich dem Fürsten von Pram, dem mächtigsten Mann der Welt, je wieder so nahe sein? Sollen wir noch weitere hundert Soldern warten, bis es endlich und endgültig vorüber ist – mit uns, den Welsen?«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie, schickte dabei ein Lächeln in den Saal.
»Ja, Ihr habt ganz recht, Estrid, dieser Lendern ist ungewöhnlich heiß, heißer noch als der im Solder zuvor. Das macht selbst mir zu schaffen und dabei sollte ich es doch gewohnt sein.«
Estrid versuchte, ihre Hand zu befreien, aber Mendron drückte noch fester zu. In seinen Zügen lag nun keine Bitte mehr, sondern eine Warnung.
»Ich habe viel gelesen in der letzten Zeit«, sagte Estrid unbeirrt, sie konnte nun nicht mehr zurück. »Was Pram den Welsen antut, ist nicht recht. Ihr wisst es, alle wissen es. Aber niemanden kümmert es. Dabei wurde das Unrecht sogar aufgeschrieben. Es steht in den Büchern! In pramschen, in Euren Büchern!«
»Mäßigt Euch, Estrid. Dies hier führt zu keinem guten Ende.«
Der Fürst war ins Welsische gewechselt, was Estrid noch mehr aufbrachte. Er kannte ihre Sprache! Und er wusste doch, wie sehr sie litten, er wusste doch, dass sie ausgebeutet wurden – wie konnte er so freundlich, so verständig tun, wenn sein Herz so kalt war?
»Ich will lieber sterben, als so leben wie Ihr.«
Sie riss ihre Hand aus seiner Umklammerung, warf dabei ihr volles Glas um.
»Hier ist alles nur Lüge. Ich hätte überall hingehen sollen, nur nicht nach Pram. Ich hätte jeden um Verständnis, um Hilfe bitten können – nur nicht einen Pramer!«
»Estrid!«
Sie sprang auf: »Und erst recht nicht den obersten der Pramer! Der Feste feiert! Der sich amüsieren möchte! Der Augen und Herz vor der Wirklichkeit verschließt!«
Auch der Fürst erhob sich; er war um Haaresbreite kleiner als die Welsin.
»Estrid von den Randbergen, in Eurem eigenen Interesse: Setzt Euch, mäßigt Euch!«
Sie bemerkte nicht einmal, dass alles Getuschel verstummt war, dass kein Gast mehr wagte zu atmen und nur noch die Gamban- und Tarvespieler gegen die tödliche Stille im Saal anzupften.
»Ihr könnt mir nicht befehlen, Ihr seid nicht mein Fürst. Wir Welsen haben keinen Fürsten und keinen König – wir haben einen Statthalter und uns regiert der Hunger, sonst niemand! «
Es war Belendras große, weiche Hand, die Estrid am Arm packte und zu sich herumriss. Belendra hakte die aufgelöste Estrid unter und schritt hocherhobenen Hauptes mit ihr aus dem Saal – noch bevor Sardes sich aus seiner totengleichen Starre lösen und die Garde auf diese wildgewordene Rothaarige hätte hetzen können.
10
Die Quelle schwieg, sie versiegte und das war sein Ende. Sardes stand, vom Schmerz gebeugt, in der säulengestützten Halle am Rand des Quellbeckens und lauschte in die Stille hinein. Das Geräusch von Wasser, das über Stein rinnt, war nur noch Erinnerung. Er musste gehen, aber der Zeitpunkt war denkbar schlecht. Anders als die meisten Menschen hatte Sardes zwar keine Angst vorm Tod und auch nicht vor dem Sterben, aber zu guter Letzt haderte er doch. Denn er wusste sehr genau, wie erbarmungslos der Tod wirklich war.
Was Sardes jedoch vergessen hatte, was er nicht mehr ergründen konnte, das waren die Gefühle oder Ängste der anderen. Er hatte sich schon zu weit von seinen Mitmenschen entfernt, um sie noch zu verstehen. Er mischte sich nicht ein. Nicht mehr. Früher hätte er jedem, der es wissen wollte oder auch nicht, gesagt: Fürchte dich. Fürchte dich vor dem Tod, denn er ist
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