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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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schrecklich und grausam. Fürchte dich vor den Schmerzen, denn sie werden dir den Verstand rauben. Du wirst Schmerzen haben, das ist sicher, und sollte wider Erwarten dein Körper Gnade kennen, dann wird dich deine Seele martern. So oder so wird das Ende schrecklich. Davon war er überzeugt, denn er hatte den Tod oft mit angesehen. Zu viele Menschen waren gestorben, während Sardes weiterlebte. Zu oft hatte er die Sterbenden begleiten wollen und es nicht gekonnt. Der Tod der anderen war für ihn zur Qual geworden   – er fürchtete den Tod jederzeit und überall, nur nicht bei sich selbst. Nicht mehr. Es hatte so lange gedauert, bis Sardes nun endlich an der Reihe war, und er war so langsam gestorben, dass für ihn das Leben zu der unbekannten Gegend geworden war, die der Tod für alle Lebenden ist. Dennoch hielt ihn das Leben fest.
    Wie soll ich denn in Ruhe gehen, jetzt, wo die Welt zerbricht?
    Die Quelle schwieg. Sie war endgültig versiegt. Sie hätte von den Schmerzen erzählen können, die Sardes plagten   – den Schmerzen des Sterbenden, vor denen sich so viele fürchteten. Sardes starb seit über hundert Soldern und ebenso lang litt er Schmerzen. Nun waren sie unaushaltbar geworden. Die Quelle hätte auch von der Dunkelheit sprechen können, in die Sardes’ Geist gestürzt war, nachdem Asli ihn verlassen hatte. Das Wasser, das bereits diesen Stein herabgeströmt war, noch bevor das erste Haus von Pram errichtet wurde, wusste alles über seinen Hüter. Es war er. Die Quelle war Sardes, sie war sein Leben und so war Sardes auch sie. Wenn er sie fragte, fragte er nur sich selbst. Aber die Antworten, die Antworten …
    Wie kommt es, dass ich immer weniger weiß, immer weniger verstehe ?
    Er lauschte in sich hinein. Aber Sardes hatte sich nicht nurvom Leben, sondern auch von der Gegenwart immer weiter entfernt. Über dem Lauschen vergaß er die Frage. Erstarrt im Schmerz stand er am dunklen Wassersaum in der großen Halle, deren Säulen auf den steinernen, algenbewachsenen Häuptern der Undae ruhten.
    Utate, liebste Unda, lebende Tochter. Hoffen die Menschen, in ihren Kindern weiterzuleben? Ist das nicht entsetzlich eitel?
    Er erinnerte sich an Utates Mutter. Sardes erinnerte sich immer klarer an die weite Vergangenheit, je mehr ihm die Gegenwart vor den Augen verschwamm. Es war eine Zeitenwende gewesen, als er Utates Mutter kennenlernte, und es war eigentlich kein Kennenlernen gewesen, sondern ein heftiger Zusammenprall. Einmal gesehen und gleich geliebt. Einmal geliebt und gleich ein Kind. Ein Kind, so schön wie die Mutter: Utate. Die letzte, die jüngste der Undae, hineingeboren ins Ende der Alten Zeit. Man kann nicht lernen, das Wasser zu lesen, es ist eine Gabe der Vergangenheit, der Zeit vor dieser Zeit. Nun brach wieder eine neue Zeit an. Würde Utate ihre Fähigkeiten und ihre Liebe zu den Menschen in diese neue Zeit hinüberretten können? Sardes würde es nicht erfahren, denn er starb. Der Gedanke, dass auch Utate sterben könnte, dass es keine Rettung gab   – weder für ihre Fähigkeiten noch für ihre allumfassende Liebe noch für die Menschen noch für die Welt   – dieser Gedanke war zu gewaltig und zu schrecklich, als dass er in Sardes’ verlöschendem Geist noch aufflammen konnte. Er war ein großer Quellhüter gewesen, ein weiser und mächtiger Mann und dabei letztlich doch nur ein Vater, der sich wünschte, sein Kind würde es auch ohne ihn gut haben. Er war nicht eitel.
    Sie kann ohne mich leben, dessen bin ich mir sicher. Aber ich habe nicht ohne dich leben können, Asli. Dein Tod war mein Tod. Warum musstest du dich deiner Schwester entgegenstellen?
    Warum?
    Weil es nicht anders ging. Weil Asli ihren Zwilling liebte. Asing war ihre Kehrseite   – völlig anders und dennoch ganz wie sie. Als Asing in ihrem Liebeswahn Welsien verbrannte, entzündete Asli das Gegenfeuer, um die letzten noch lebenden Welsen zu retten. Auch das war eine Liebestat. Und als Asli sich schließlich selbst entzündete, als auch sie brannte, leuchtend weiß, und ihr Feuer über dem Kontinent explodierte wie das gleißende Licht eines verglühenden Sterns   – war nicht auch das heller Wahnsinn gewesen? Können Gut und Böse sich jemals näherkommen als in den beiden segurischen Schwestern?
    Immer noch horchte Sardes in sich hinein, aber nach und nach lösten sich alle Zusammenhänge auf, er verstand seine eigenen Gedanken nicht mehr. Sein Wissen verwehte. Zurück blieben Bilder und Gefühle. Da stand sie,

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