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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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unsichtbaren Fingern ihren Brustkorb und drückte ihn zusammen.
    »Eure Naivität ist manchmal kaum zum Aushalten!«, brauste Belendra auf. Der Gelbe machte einen erschrockenen Seitwärtsschritt, flog aber immer noch nicht weg. Mit einem Mal packte Belendra Estrid bei den Schultern, ihre Finger gruben sich ihr ins Fleisch.
    »Samirna hat   – im Interesse des Volkes, der Bürger von Pram   – den Hohen Rat angerufen und nun ist es offiziell: Entweder Mendron lässt ab von Euch, Estrid, und verweist Euch und die Kinder der Stadt oder er muss abdanken. Denn es ist offensichtlich: Er steht unter Eurem Bann. Ihr seid ein böses Zauberweib, Estrid, eine Ignamalja   – Ihr habt Pram entzündet und ebenso das Herz des Fürsten.«
    Sie lachte auf und ließ Estrid los. Drehte sich weg und hustete ebenfalls.
    »Diese Stadt, diese Welt ist nicht mehr zu retten.«
    Endlich begriff Estrid: Es war ein Abschied für immer gewesen. Sie hatte es gefühlt und doch nicht glauben wollen. Mendron würde nicht mehr wiederkommen. Im Gegenteil: Sie musste Pram verlassen. Der Fürst würde sie der Stadt verweisen. Ja, schon möglich, dass er für sie entbrannt war, aber abdanken würde er deshalb nicht. Er war Pram, er konnte nicht. Wo sollte sie nun hin? Weg hier, ins Feuer. Alles lief doch genau darauf hinaus, oder? Es kam Estrid so vor, als schützten nur noch die hohen Mauern dieses großen Gartens sie vor den lodernden Flammen. Draußen wartete der Tod, auf sie und auf die Kinder. Sie hatte so viel für ihr Volk und für sich erreichen wollen, hatte auf eine Zukunft gehofft. Und was geschah nun? Wieder schickten die Pramer die Welsen ins Feuer. Estrid würgte, fürchtete zu ersticken.
    »Auch ich werde nicht bleiben«, sagte Belendra unvermittelt und mit dunkler Stimme. Sie machte einen Schritt auf Estrid zu   – und nahm sie in den Arm. Estrid war zu überrascht, um sich zu sträuben, und dann spürte sie Belendras warmen, weichen Busen, roch den kostbaren Duft ihrer Haare und nicht mehr den Rauch. Estrid schloss die Augen und ließ sich in Belendras Trost fallen.
    »Wir gehen zusammen, Estrid«, sagte sie leise. »Wir nehmen die Kinder und gehen dorthin, wo die Luft nicht von Habgier und Missgunst verpestet wird. Ich habe ein Boot, ein recht ansehnliches sogar. Auf dem See sind wir in Sicherheit. Oder möchtet Ihr lieber in die Berge?«
    Estrid lächelte, öffnete die Augen wieder und löste sich aus der Umarmung. Sie wollte gerade einen Dank stammeln, da sah sie, wie sich Belendras Gesicht wieder verfinsterte. Einer der jüngeren Knaben kam in den Garten gerannt und überreichte ihr ein kleines, hölzernes Täfelchen. Besucher kündigten sich an. Galt das etwa schon ihr?
    Belendra beantwortete Estrids unausgesprochene Frage mit einem Kopfnicken.
    »Ja, Estrid, es ist so weit. Aber immerhin beweist der Hohe Rat einen allerletzten Rest Anstand und schickt die erste Vorsitzende. Gilmen kommt höchstpersönlich, um Euch aufzufordern, die Stadt zu verlassen.«
    Auch Estrid nickte, gefasst. Sie strich sich das Kleid glatt, hob das Kinn. Doch als sie kurz zur Seite blickte und feststellen musste, dass der Gelbe nicht mehr auf dem Käfig saß, sondern davongeflogen war, wäre sie beinahe selbst in Tränen ausgebrochen.
16
    Die Segurin kam nicht allein. Gilmen wurde von einem gut aussehenden, aber klein gewachsenen Mann begleitet, den Estrid nach kurzem Nachdenken als den Kartografen Telden erkannte. Er trug die braunen Haare im Nacken zusammengebunden, seine dunklen Augen waren wachsam. Außerdem standen noch vier Soldaten aus Mendrons Leibgarde in der Halle, als Belendra und Estrid eintraten. Aber die Anwesenheit von gerüsteten, bewaffneten Männern flößte Estrid keine Furcht ein, im Gegenteil: Sie fühlte sich gleich sicherer. Doch dann begriff sie: Die Soldaten sind hier, um dich wegzubringen! Estrid musste es sich selbst vorsagen, damit sie es verstand. Ihr ganzes Leben hatte sie in karger Eintönigkeit verbracht   – hier in Pram war in wenigen Zehnen bereits mehr geschehen als in allen Soldern zuvor. Sie begriff, was vor sich ging, aber ihr Empfinden kam nicht so schnell hinterher, und außerdem war sie dem ganzen Geschehen hilflos ausgeliefert. Das ließ sie erstarren. Sie stand aufrecht und reglos in der Halle, das Gesicht eine Maske, die Hände verschränkt und die Schultern gestrafft. Gefasst und herrschaftlich wirkte sie und wusste es nicht.
    »Was ist? Wollt Ihr nicht das Urteil verkünden, ehrwürdige Vorsitzende

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