Zwölf Wasser
Dass Ihr mir Abend für Abend Euer Ohr geschenkt habt. Ihr könnt sehr gut zuhören, wusstet Ihr das? Eine seltene Gabe und in Pram praktisch unauffindbar. Ihr habt mir vieles klargemacht. Ja, ich kann sagen: Ihr habt mir die Augen geöffnet.«
Er trat nah an sie heran, aber er berührte sie nicht.
»Mein Herz ist nicht verschlossen«, flüsterte er. »Darin habt Ihr Euch getäuscht, Ignamalja. Aber es war … betäubt. Ihr habt mich aufgeweckt.«
Mendron ging wieder auf Abstand, ließ seinen Blick über Estrid wandern, als wolle er sich ihre Gestalt ganz genau einprägen. Ihr war so unwohl, dass sie fürchtete, die Knie könnten ihr einknicken. Aber sie blieb stehen und hielt es aus. Er wandte sich als Erster ab.
Zwischen dunklen Pflanzen sprang das kleine weiße Reh hervor und drehte seinen mit einem silbrigen Geweih gekrönten Kopf zu ihnen. So hübsch das Tier war, Estrid fürchtete sich vor ihm und sein plötzliches Erscheinen erschreckte sie immer wieder. Der Fürst beachtete es kaum, sondern warf ihm ein paar Münzen hin, als er an ihm vorübereilte. Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln und die Leuchtkäfer glommen neben seinen raschen Schritten kurz auf. Kürzer als sonst, so kam es Estrid vor, und seltsam matt.
15
Es ging bereits gegen Mittag, aber es wurde nicht richtig hell. Estrid stand auf der Terrasse und beobachtete Belendra dabei, wie sie durch den Garten wandelte und mit erstarrten Gesichtszügen die Türen der Vogelkäfige öffnete. Sie bekam es mit der Angst. Rauchschwaden verdunkelten die Sonne, ein Vogel nach dem nächsten flatterte in den grau verhangenen Himmel, farbige Juwelen wie in Blei gefasst. Der Brandgeruch war beißend geworden und das Atmen wurde immer quälender. Estrid hatte Ristra verboten, in den Garten zu gehen. Das Mädchen stand mit Strem am Fenster ihres Zimmers; als Estrid zu ihnen hinaufschaute, sah sie, seltsam verzerrt hinter dem dicken, farbigen Glas, die ängstlichen Gesichter ihrer Kinder. Belendras Knaben weinten, jammerten laut. Zwei hatten eng umschlungen auf den unteren Treppenstufen in der Halle gesessen und auf Estrids Frage nach ihrer Herrin nicht einmal aufgeblickt. Die anderen zwei, die älteren, waren mit ihr im Garten und versuchten mit wachsender Verzweiflung zu verhindern, dass Belendra die Vögel freiließ. Sie hob die Hand, um sie zu schlagen, tat es aber nicht. Die Knaben fielen auf die Knie und bettelten stumm, umfassten ihre Beine. Sie machte sich los, drehte sich weg, öffnete die nächste Tür. Estrid stand einfach steif da, unfähig, sich zu bewegen oder zu sprechen, und schaute auf die zunehmend gespenstische Szene. Nicht alle Vögel flogen gleich auf und davon, manche blieben auf nahen Bäumen oder in den Sträuchern sitzen. Die Knaben versuchten, sie wieder einzufangen, erfolglos. Wie alle Kinder wollten sie sich von nichts trennen – erst recht nicht von etwas Liebgewonnenem, Lebendigem. Belendras maskenhaftes Gesicht und ihre Weigerung, ihr Tun mit auch nur einem Wort zu erklären, machte alles noch schlimmer.
Belendra war bei dem großen gelben Vogel angekommen und endlich konnte Estrid sich wieder bewegen. Sie eilte zum Käfig und legte Belendra, die im Begriff war, die Tür zu öffnen, die Hand auf den Arm.
»Warum tut Ihr das? Die Kinder weinen!«
»Ich auch«, sagte sie und sah Estrid an. Belendras Augen waren trocken und dennoch konnte Estrid die Tränen sehen. Belendra hatte viele vergossen in ihrem Leben. Die Einsamkeit dieser Frau wehte Estrid an wie ein eiskalter Hauch. Sie ließ ihre Hand sinken.
Belendra öffnete den Käfig und der Gelbe kam sogleich heraus, als habe er all die Nächte nur um seine Freiheit gerufen und nicht etwa Estrid bewacht. Er flog aber nicht auf, sondern kletterte geschickt mit Schnabel und Krallenfüßen außen am Käfig hoch und blieb oben sitzen.
»Sie hat ihn gezwungen«, sagte Belendra kraftlos.
»Wie? Wer?« Estrid sah auf den Vogel, hoffte, er würde bleiben.
»Samirna, das Flittchen. Sie ist gerissen, das muss ich zugeben. Sie hat beim Hohen Rat ein Gesuch eingereicht und der Rat hat es angenommen.«
Den ganzen Vormittag über waren Belendras Spitzel durchs Haus gehuscht, Schatten, die kamen und gingen. Was hatten sie Belendra zugetragen, was war geschehen? Der Vogel legte den Kopf schief und blickte Estrid mit einem Auge aufmerksam an, als warte er auf eine besonders interessante Bemerkung von ihr.
»Ich verstehe nicht«, sagte Estrid und hustete. Der Rauch umklammerte mit
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