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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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überwältigt werden würde   –, durften sie sich nicht abwenden. Felt und Babu mussten sich stellen, denn sie waren Teil dieser Menschheit. So hilflos sich Babu auch oft gefühlt hatte   – und heute noch fühlte, denn wie sollten sie das Unheil abwenden?   –, so war ihm doch vollkommen klar, dass er seine Menschlichkeit auf einen Schlag verloren hätte, wäre er in Wiatraïn geblieben. Das wäre ein Verlust gewesen, der größte, aber auch eine Erleichterung. Denn er hätte auch seine Sterblichkeit verloren, beides war untrennbar miteinander verknüpft. Bei aller Hilflosigkeit waraber genau das die Stärke der Menschen: sich gegen das eigene Leben und für das von anderen zu entscheiden. Im vollen Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit waren Babu und Felt auf den Kontinent zurückgekehrt, und diese Entscheidung, diese Tat hatte ihnen auch ihre Menschlichkeit begreifbar gemacht.
    »Ihr seid nun ein gutes Stück voraus«, so hatte Reva es beschrieben. »Ihr beiden gehört zu den ersten Menschen einer neuen Zeit. Ihr habt die Welt verlassen und seid aus freien Stücken zurückgekommen. Ihr hattet die Gelegenheit, euch selbst zu erkennen, und habt sie genutzt. Ihr seid neue Menschen geworden. Ob dieses neue Zeitalter einen Namen erhält und ob ihr beide in der Chronik der neuen Welt Erwähnung finden werdet, das wird sich zeigen. Es hängt auch davon ab, ob noch jemand da sein wird, um Geschichten aufzuschreiben und Geschehnisse zu deuten.«
    In Felts sonst so unbeweglichem Gesicht hatte es gezuckt, als Reva diese Sätze sprach, und Babu wusste, dass Felt an den Mann dachte, dessen Buch er in der inzwischen ziemlich ramponierten Tasche mit sich herumtrug. Den Mann aus Pram, der an der Quelle der Freundschaft von den Wölfen getötet worden war.
    Die Wölfe.
    Dachte Babu an die Wölfe, die glimmenden Augen, das heiße Blut, dann war er dem Versteck sehr nahe, in dem seine Rache vergraben war. Er durfte nicht hinsehen.
    Babu zwang sich, den Blick auf das zu richten, was unmittelbar vor ihm war. Er sah auf Juhut. Der Falke hatte seine weißen Federn geplustert, die Luft war dick und feucht. Seit sie unter einem fernen Mond dem steinernen Boot entstiegen waren, wanderten sie wie durch eine milchige Flüssigkeit.
    »Ich weiß, wo wir sind«, hatte Reva gesagt, als der Mond verschwand und stattdessen die blasse Scheibe der Sonne amdunstweißen Himmel hing. »Wir sind bei den Schleierfeldern zurück auf den Kontinent gelangt. Es hätte schlimmer kommen können.«
    Was schlimmer als das triste, verhangene Grasland sein sollte, hatte sie aber verschwiegen. Vielleicht der Boirad, der Nebelwald, der, wie diese Gegend hier, ebenfalls eine verschwommene Grenze zwischen Ewigkeit und Wirklichkeit markierte. Der Boirad hatte Babu die Sinne so durcheinandergebracht, dass die Erinnerung an den Wald ihm wie eine Erzählung vorkam, deren Ende er nicht mehr wusste, und nicht wie etwas, das er selbst erlebt hatte.
    An das Nogaiyer-Mädchen Nuru aber erinnerte er sich gut. Zwischen ihren Wimpern hatten nach dem Bad die Wassertropfen geglitzert und das Lederhemd hatte an ihren feuchten Schenkeln geklebt. Jedoch war auch Nuru ein Hinweis auf das Gedankenversteck, das Babu auf keinen Fall finden wollte, und nach dem Bad war an jenem Morgen Schreckliches geschehen. Babu musste achtgeben, dass aus dem Glitzern von Wassertropfen nicht das Aufblitzen einer Dolchklinge wurde, und so verbot er sich, an Nurus runde Augen zu denken, an die wie gespannte Bögen geschwungenen Augenbrauen und die Lippen, die sich zu diesem leicht schiefen Lächeln verziehen konnten.
    Wie schwer es war, bestimmte Gedanken nicht zu denken und bestimmte Gefühle nicht zu fühlen …
    Ein anderes Gefühl kam Babu schließlich zu Hilfe, ergriff mehr und mehr von ihm Besitz und verdrängte alle übrigen. Es war etwas, das er lange nicht verspürt hatte, das in Wiatraïn ganz und gar verschwunden gewesen war und das doch zu den ursprünglichsten Empfindungen aller lebenden Wesen zählte:
    Babu hatte Hunger.
2
    Sie hatten mehr aus Wiatraïn mitgebracht, als es zunächst den Anschein hatte. Das Offensichtliche war Wasser   – das unvergleichlich frische, klare Wasser der Quelle. Sie teilten es sich gut ein, tranken wenig. In der feuchten Luft, unter dem trüben Himmel fiel das nicht allzu schwer. Das zweite, nicht minder kostbare Mitbringsel war die Fähigkeit, einander zu verstehen. Babu und Felt versicherten sich gegenseitig, in ihrer jeweiligen Muttersprache zu

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