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Zwölf Wasser

Zwölf Wasser

Titel: Zwölf Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. L. Greiff
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abzuwenden. Vielleicht wäre das vor hundert Soldern gelungen, vor Sardes’ verzweifelter Rettungstat für Pram oder vor der Feuerschlacht. Oder lag die Ursache noch weiter zurück? Wo war der Beginn dieser Kette von Ereignissen, der Anfang vom Unglück? Es war müßig, darüber nachzudenken. Felt konnte das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, er konnte nur achtgeben, dass er nicht überrollt wurde. Doch wenn sie zu lange hier verweilten, würde genau das geschehen, Felt fühlte es ganz deutlich.
    Trotzdem nickte Reva Babu zu.
    Babu wandte sich ab, entfernte sich einige Schritte und ließ sich ebenfalls auf einem runden Felsen nieder, der aus der von niedrigen Strauchflechten bewachsenen Erde herausragte. Wie in Wiatraïn schlug Babu die Beine unter, legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel, an dem der Falke seine Schleifen flog.
    Was tat Babu? Nachdenken? Mit der Szasla sprechen? Zuhören? Oder ging es ums Sehen? Felt stellte sich vor, wie Babu mit den Augen des Falken den Weg ausspähte, den sie durch die vielen sich verzweigenden Schluchten nehmen mussten, um das Ziel zu erreichen. Aber wie groß war das Gebiet wirklich? Wie sollten sie in einem solchen Irrgarten die Richtung behalten? Sie brauchten Juhut, mehr denn je. Felt schwor sich, dieses Mal dem jungen Merzer die Führung zu überlassen. Den Vorteil, den der Falke ihm verschaffte, sollte er endlich ihnen allen zugutekommen lassen. Die Zeit, die Babu jetzt für sich brauchte, sollte er später wieder zurückgeben, das wäre nur gerecht.
8
    Babu hielt die Augen auf den hellen Fleck gerichtet, der sich in weiten Schwüngen über dunkelndes Blau bewegte. Das verstärkte zwar den Kopfschmerz, ließ ihn an einem Ort zusammenfließen und sich dort verdicken. Aber nur so konnte Babu sich über sich selbst erheben. In Wiatraïn hatte er damit begonnen, seine Seele wie ein Tuch an das Band zwischen ihm und Juhut anzuknoten und sie zu ihm aufsteigen zu lassen. Was geschah, wenn dies gelang   – und es gelang nicht immer –, darüber hatte Babu keine Gewalt. Er war dem Willen und Wohlwollen des Falken ausgeliefert wie immer. Dennoch: Babu kannte keine andere Instanz als die Szasla, an die er sich mit der Bitte um Beistand wenden konnte. Und es gab niemanden sonst, der ihm wirklich helfen könnte. Er folgte dem hellen Fleck am Himmel, fühlte, wie sich der Schmerz verdichtete, und dachte: Kannst du mich hindurchführen?
    Der Kopfschmerz hatte sich zu dem scharfkantigen Stein verklumpt und lag schwer und drohend hinter Babus Stirn. Hinter dem Splitter. Hinter dem Stück geronnenem Wolfsblut, das in ihn eingewachsen war und nun aussah wie ein Horn, das bald durch die Haut brechen würde. In Babus Augen sammelten sich Tränen und der helle Fleck am Himmel verschwamm. Unbeirrt starrte er weiter nach oben, zwinkerte nicht einmal.
    Kannst du mich hindurchführen?, fragte er wieder.
    In seinem Kopf zerplatzte etwas: Ein dünnwandiges, großes Gefäß fiel zu Boden und der Inhalt ergoss sich in nicht enden wollenden Strömen über dunklen Stein. Babu hörte das Rauschen von Wasser. Er war voll von diesem Rauschen. Er ging hindurch, das Wasser umspülte seine Füße und die hohen, nach oben hin teilweise überhängenden Felswände verstärkten das Geräusch des Sprudelns und Strömens. Licht fiel in so gleißend hellen Bündeln in die enge Kluft, als läge die Sonne selbst oben am Rand und blickte in den Abgrund hinab. Dennoch blieb es am Talgrund, wo der Fluss floss und wo Babu ging, seltsam schummrig. Von den steilen Wänden der Schlucht rieselte und tröpfelte es, das Wasser benetzte hängende Moose und auf Vorsprüngen sitzende Farne, die mit ihren Wedeln wie mit Händen in die Lichtstrahlen griffen. Die feinen Rinnsale und die zerstiebenden Tropfen erfüllten den Raum zwischen dem Fels, den Raum, durch den Babu ging, mit einem im schrägen Licht funkelnden Dunst. Es war, als ob man Wasser atmete und nicht Luft. Hier schien die Welt älter zu sein. Hier war kein Mensch je gewesen. Babu wurde die Brust eng, aber er ging weiter. Krebse flüchteten, wenn er sich näherte, sie waren nur ein Huschen in den Schatten. Der gleißend helle Streifen des Himmels verschmälerte sich mit jedem Schritt, den Babu tat, und er hatte den Eindruck, der Fels wachse über ihm zusammen. Schließlich hatten die steinernen Kiefer der Ubid Engat ihn gänzlich umschlossen und er war gefangen in ihrem dämmrigen, geifernden Maul. Er blieb stehen. Die Klamm war so eng geworden, dass

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