Zwölf Wasser
seinen nächtlichen Eindrücken nach. Zu Felt hatte er gesagt, das seien keine Träume, und so empfand Babu es auch: Was er durchlebte, wenn er die Augen schloss, war kein Traum. Sondern fühlbarer als die Wirklichkeit. Es waren Visionen voller intensiver Empfindungen und voller Ängste. Und er war allem ausgeliefert. In der Ohnmacht nach der Hungerzeit oder wenn Babu schlief, zeigten sich ihm verstörende Bilder. Wie sie zu deuten waren, das ahnte er bisher nur. In einem aber war er sich inzwischen ganz sicher: Was er erlebte, wenn er den hellen Fleck am Himmel anstarrte, wenn er im wachen Zustand sein Bewusstsein an Juhut knüpfte und der innere Aufstieg gelang – das waren weder Visionen noch Träume. Das war etwas ganz anderes. Babu sah auch keineswegs nur das, was Juhut sah. Er nahm mit den Augen des Falken nicht einfach nur eine nebelverhangene Küste oder den Weg durch ein Schluchtenlabyrinth wahr. Er sah mit seiner Hilfe zwar voraus, aber nicht durch den Raum. Sondern durch die Zeit. Babu konnte durch die Szasla die Zukunft sehen.
12
Die Höhle nahm kein Ende, war eine Abfolge von unterirdischen Hallen, abzweigenden Kammern und ins Unbekannte führenden Korridoren. Felt, Reva und Babu folgten am weiten Höhlengrund dem Hauptarm des Flusses, der sich zwar immer wieder in vielen Adern bis auf mehr als fünfzig Schritt verbreiterte und auch Seitenarme in der Dunkelheit verlor, letztendlich aber doch stetig in eine Richtung floss, immer tiefer hinein in das Höhlengewirr. Das Wasser war klar und kalt, die steinernen Ufer mal rundgeschliffen, mal zerklüftet und mit losem Gestein bedeckt. Manchmal gingen sie eng beisammen im blassen Licht der Unda, manchmal vergrößerten sich die Abstände zwischen den Wandernden, wenn die Sicht durch Lichtinseln besser wurde.
Felt beobachtete, dass Babu dort nicht mehr stehen blieb und nach oben blickte. Als er ihn nach dem Falken fragte, antwortete Babu: »Ich sehe ihn nicht mehr, aber ich weiß, dass er da ist.« Und um einem Nachfragen Felts zuvorzukommen, fügte er an: »Es macht nichts. Zu wissen, dass Juhut dort oben kreist, genügt mir und macht mir diese Höhle erträglich. Aber wenn ich Juhut nicht sehe, kann ich auch nicht sehen, wohin wir gehen.«
Felt nickte.
»So etwas habe ich mir schon gedacht. Es wäre gut, wenn du uns führen könntest. Wenn nicht, gehen wir eben einfach weiter. Auch diese Höhle wird einen Ausgang haben, dieser Fluss fließt nicht nirgendwohin. Wir laufen auch nicht im Kreis, das sagt mir der Nordweiser. Irgendwann wird wieder Himmel über uns sein statt Stein. Solange Reva nicht protestiert, gehen wir weiter entlang dieses Wassers. Babu, ich habe gelernt, ihr zu vertrauen. Es ist mir nicht immer leicht gefallen, das gebe ich zu. Aber glaube mir: Sie findet hinaus. Sie weiß, wo die Quelle ist,und sie wird uns dorthin führen. Nicht wahr, Reva, du weißt es doch? Reva?«
»Ja?«
»Es ist doch richtig, diesem Fluss zu folgen?« In Felts Stimme war kein Ärger über die Unaufmerksamkeit der Unda, nur ein Hauch von Sorge.
»Es ist noch weit«, sagte Reva schließlich, »aber wir sind auf einem guten Weg. Die Ubid Engat sind voller Möglichkeiten, es gibt unzählige Wege hier und unzählige Flüsse, die uns hindurchleiten können. Alles ist ein Strömen in alle Richtungen, alles ist vom Wasser geformt. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, für diesen Fluss und, ja, es ist richtig, ihm zu folgen. Ein anderer Weg wäre ebenso gut. Es gibt viele. Irgendwann wird wieder Himmel über uns sein und irgendwann werden wir die Ubid Engat verlassen und die Quelle der Wahrhaftigkeit erreichen.« Sie lächelte Felt verträumt an und ein ganz ungewohnt mädchenhaftes Staunen war in ihrem Gesicht. »Ich kann nicht sagen, wann. Ich habe die Zeit vergessen, ich höre so viele Dinge … Begebenheiten, die längst Legende geworden sind und selbst in meiner weitreichenden Erinnerung unter vielen, vielen anderen Geschehnissen begraben waren. Bitte verzeiht, dass ich nur zeitweise bei euch bin; ihr müsst gehen, immer weitergehen, das ist gut und richtig … und ich muss zuhören. So tief bin ich lange nicht mehr in die Vergangenheit vorgedrungen. Wenn ich diesen Wassern lausche, ist es so, als würde ich die Stimmen alter Freunde hören – die immer noch beisammensitzen und sich die alten Geschichten erzählen, während die Welt sich längst von ihnen wegbewegt hat.«
»Warum erzählst du uns nicht eine dieser Geschichten?«
Mit Blick auf Babu
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