Zyklus der Erdenkinder 03 - Ayla und die Mammutjäger
und verglich die beiden miteinander. Rydags Haut war hell und sein Haar dunkel und gelockt, allerdings heller und weicher als das zottige dunkelbraune Haar der meisten Leute vom Clan. Der größte Unterschied zwischen diesem Kind und ihrem Sohn, so bemerkte Ayla, betraf das Kinn und den Hals. Ihr Sohn hatte einen langen Hals wie sie – manchmal hatte er an seinem Essen gewürgt, was die anderen nie taten – und ein fliehendes, gleichwohl jedoch unübersehbar vorhandenes Kinn. Dieser Junge hatte den kurzen Hals des Clans und den kinnlosen Kiefer. Dann erinnerte sie sich. Latie hatte gesagt, er könne nicht sprechen.
Plötzlich verstand sie und wußte, wie das Leben dieses Kindes aussehen mußte. Ein fünfjähriges Mädchen zu sein, das seine Familie bei einem Erdbeben verloren hatte und von einem Clan von Leuten gefunden worden war, die zu voll artikulierter Rede nicht fähig waren, ein Mädchen, das nun die Zeichensprache erlernen mußte, mit der sie sich verständigten, das war eines. Etwas ganz anderes jedoch war es, mit Menschen zusammenzuleben, die sprechen konnten, ohne selbst dazu imstande zu sein. Lebhaft erinnerte sie sich an ihre Verzweiflung, weil sie außerstande gewesen war, sich mit den Leuten vom Clan zu verständigen, die sie aufgenommen hatten, ja, schlimmer noch, wie unendlich schwierig es gewesen war, sich Jondalar verständlich zu machen, ehe sie von ihm wieder Sprechen gelernt hatte.
Sie machte dem Jungen ein Zeichen, eine einfache Geste der Begrüßung, eine der ersten, die sie vor so langer Zeit selber gelernt hatte. Momentan blitzte es in seinen Augen auf, doch dann schüttelte er den Kopf und machte ein verwirrtes Gesicht. Sie begriff, daß er das Sprechen durch Gesten, wie es beim Clan üblich war, nie gelernt hatte. Gleichwohl mußte er Spuren der Clan-Erinnerung in sich tragen. Einen Moment hatte er das Signal erkannt, dessen war sie ganz sicher.
»Darf Rydag das kleine Pferd anfassen?« fragte Latie noch einmal.
»Ja«, sagte Ayla und nahm seine Hand. Wie dünn er ist, wie zerbrechlich, dachte sie – und begriff den Rest. Er konnte nicht laufen wie die anderen Kinder. Er konnte nicht ihre normalen ruppigen Spiele mit ihnen spielen und nicht mit ihnen herumtollen. Er konnte immer nur zusehen – und sich sehnen.
Mit einem zärtlichen Ausdruck, wie Jondalar ihn noch nie auf ihrem Gesicht gesehen hatte, hob Ayla den Jungen in die Höhe und setzte ihn Winnie auf den Rücken. Dann winkte sie dem Pferd, ihr zu folgen, und ging langsam und gemessen durch das Lager. Die allgemeine Unterhaltung verstummte, denn alle starrten sie Rydag an, wie er rittlings auf dem Pferd saß. Zwar hatten sie untereinander darüber gesprochen, doch bis auf Talut und die Leute, die unten am Fluß auf sie gestoßen waren, hatte noch keiner von ihnen jemand reiten sehen. Ja, niemand hatte an so etwas je gedacht.
Eine große mütterliche Frau kam aus dem Ende des seltsamen Baus zum Vorschein, und als sie Rydag auf dem Rücken des Pferdes sitzen sah, das vor noch gar nicht langer Zeit gefährlich nahe an ihrem Kopf ausgekeilt hatte, war ihr erster Impuls, hinzulaufen und ihm zu Hilfe zu eilen. Doch als sie näher kam, wurde sie sich der lautlosen Dramatik des Geschehens bewußt.
Fassungslosigkeit und helles Entzücken malten sich auf dem Kindergesicht. Wie viele Male hatte er sehnsüchtigen Auges, aber durch seine Schwäche oder sein Anderssein am Mitmachen gehindert, zugesehen, wie die anderen Kinder spielten? Wie oft mochte er sich gewünscht haben, etwas zu tun, wofür man ihn bewunderte oder worum man ihn beneidete? Jetzt, da er auf einem Pferd saß, waren es zum erstenmal die anderen, die Kinder des Lagers und die Erwachsenen, die ihn mit sehnsüchtigen Augen ansahen.
Die Frau aus dem Bau sah das und wurde nachdenklich. Hatte diese Fremde den Jungen wirklich so schnell verstanden? Ihn so ohne weiteres akzeptiert? Sie sah, wie Ayla Rydag ansah, und wußte, daß dem so war.
»Du hast Rydag sehr glücklich gemacht«, sagte die Frau und streckte dem Jungen, den Ayla vom Pferd herunterhob, die Arme entgegen.
»Ist wenig«, sagte Ayla.
Die Frau nickte. »Ich heiße Nezzie«, sagte sie.
»Ich heiße Ayla.«
Die beiden Frauen musterten einander eingehend, nicht feindselig, sondern in dem Bemühen, den Boden für eine künftige Beziehung zu erkunden.
Fragen nach Rydag, die sie gern gestellt hätte, schossen Ayla durch den Kopf, doch zögerte sie, sie zu stellen. Sie war sich nicht sicher, ob es auch zulässig sei, sie zu
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