Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
erinnerte sich, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der ihr Tun ihm peinlich gewesen wäre; jetzt mußte er über seine einstige Torheit lächeln, aber er war doch neugierig, wie Aylas Verhalten auf Roshario und Dolando wirkte.
Dolando war verwirrt und ein wenig beunruhigt; ihr Tun war ihm völlig fremd. Seine Sorge galt Roshario, und deshalb empfand er alles Fremdartige, selbst wenn es einem guten Zweck dienen mochte, als ein wenig bedrohlich. Als Ayla geendet hatte, warf Dolando Jondalar einen fragenden Blick zu, aber der jüngere Mann antwortete lediglich mit einem Lächeln.
Die Verletzung hatte Roshario ihrer Kräfte beraubt, sie war schwach und fieberte, nicht so stark, daß sie phantasierte, aber sie war erschöpft und ein wenig verwirrt und empfänglicher für Eingebungen. Sie hatte die fremde Frau genau be-obachtet und war seltsam angerührt. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was Aylas Bewegungen zu bedeuten hatten, aber sie bewunderte ihre fließende Anmut. Es war fast, als tanzte die Frau mit den Händen, und nicht nur mit den Händen. Ihre Arme und Schultern, ihr ganzer Körper schienen we-sentliche Bestandteile ihrer tanzenden Hände zu sein und einem inneren Rhythmus zu folgen, der einen ganz bestimmten Zweck hatte. Obwohl sie es ebenso wenig verstand wie die Tatsache, woher Ayla wußte, daß sie ihre Hilfe brauchte, war Roshario ganz sicher, daß es wichtig war und daß es etwas mit ihrer Berufung zu tun hatte. Sie verfügte über Kenntnisse, die über das Wissen gewöhnlicher Leute hinausgingen, und alles, was geheimnisvoll schien, trug nur zu ihrer Glaubwürdigkeit bei.
Ayla hob die Schale und kniete vor dem Bett nieder. Sie überprüfte die Flüssigkeit nochmals mit dem kleinen Finger, dann lächelte sie Roshario an.
"Möge die Große Mutter Aller dich beschützen, Roshario", sagte Ayla, dann hob sie Kopf und Schultern der Frau so weit an, daß sie bequem trinken konnte, und hielt ihr die kleine Schale an den Mund. Es war ein bitteres, ziemlich widerliches Gebräu, und Roshario verzog das Gesicht, aber Ayla ermutigte sie, mehr zu trinken, bis sie schließlich die Schale geleert hatte. Ayla ließ sie sanft wieder heruntersinken und lächelte abermals, um die verletzte Frau zu beruhigen, aber sie achtete bereits auf die eindeutigen Anzeichen der Wirkung des Trankes.
"Sag mir, wenn du dich schläfrig fühlst", sagte Ayla, obwohl das nur die anderen Symptome bestätigen würde, auf die sie achtete, wie etwa eine Veränderung der Größe der Pupillen oder der Atmung.
Ayla hätte nicht sagen können, was für eine Droge sie verabreicht hatte, aber sie kannte ihre Wirkung, und sie hatte genügend Erfahrung, um zu wissen, woran sie zu erkennen war. Als sie sah, daß Rosharios Lider schläfrig herabsanken, betastete sie ihren Brustkorb und ihren Magen, um die Entspannung der Muskeln zu verfolgen, und achtete sorgfältig
auf ihre Atmung. Als sie sicher war, daß Roshario fest schlief und in keiner unmittelbaren Gefahr war, stand sie auf.
"Dolando, ich halte es für das beste, wenn du jetzt gehst. Jondalar wird hierbleiben und mir helfen", sagte sie leise, aber bestimmt, und ihr selbstsicheres Wesen verlieh ihren Worten Nachdruck.
Der Anführer wollte Einspruch erheben, aber dann fiel ihm ein, daß auch Shamud niemals die Anwesenheit von Verwandten geduldet und sich einfach geweigert hatte, etwas zu unternehmen, bevor sie gegangen waren. Dolando warf noch einen langen Blick auf die schlafende Frau, dann verließ er die Behausung.
Jondalar hatte schon öfter erlebt, wie Ayla in solchen Situationen die Führung übernahm. In ihrer Konzentration auf einen kranken oder leidenden Menschen schien sie sich selbst völlig zu vergessen, und ohne viel zu überlegen, wies sie andere an, zu tun, was erforderlich war. Sie kam gar nicht auf die Idee, ihr Vorrecht, jemandem zu helfen, der Hilfe brauchte, in Frage zu stellen, was zur Folge hatte, daß niemand ihr Fragen stellte.
"Auch wenn sie schläft, ist es nicht angenehm zuzusehen, wie jemand einem Menschen, den man liebt, den Knochen bricht", sagte Ayla.
Jondalar nickte und fragte sich, ob das der Grund dafür war, daß der Shamud ihm nicht erlaubt hatte, zu bleiben, als Thonolan von dem Nashorn durchbohrt worden war. Es war eine entsetzliche Wunde gewesen, ein klaffendes, ausgefetztes Loch, und Jondalar hatte sich beinahe übergeben müssen, als er es entdeckte, und obwohl er gern bei seinem Bruder geblieben wäre, wäre es wahrscheinlich sehr schwer
Weitere Kostenlose Bücher