Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
damit man die Figur in die Erde stecken konnte. Und stets fehlten ausgearbeitete Gesichtszüge. Die Figuren sollten nicht eine bestimmte Frau darstellen. Kein Künstler wußte, wie die Große Erdmutter aussah. Gelegentlich blieb das Gesicht völlig leer oder trug rätselhafte Markierungen, und manchmal umgab das Haar in verschwenderischer Fülle den ganzen Kopf.
Das einzige Frauenporträt, das die beiden je gesehen hatten, war die zarte und liebevoll gestaltete Skulptur, die Jondalar von Ayla angefertigt hatte, als sie allein in ihrem Tal lebten, kurz nachdem sie einander begegnet waren. Aber Jondalar hatte damit kein Bild der Mutter schaffen wollen. Er hatte die Skulptur gemacht, weil er sich in Ayla verliebt hatte und ihren Geist einfangen wollte. Doch nachdem er sie gemacht hatte, wurde ihm klar, daß sie ungeheure Kräfte barg. Er fürchtete, sie könnte ihr Schaden zufügen - vor allem, wenn sie in die Hände eines Menschen gelangte, der Einfluß über sie zu gewinnen suchte. Er hatte sogar Angst, die Skulptur zu zerstören, weil ihre Vernichtung Ayla Unglück bringen könnte. Er hatte sie ihr gegeben und sie gebeten, sie sicher zu verwahren. Ayla liebte die kleine Statuette mit dem geschnitzten Gesicht, das ihrem eigenen ähnelte, weil Jondalar sie gemacht hafte. Sie dachte nie darüber nach, daß die Skulptur geheime Macht bergen könnte; sie fand sie einfach schön.
Obgleich die Muttergestalten oft als reizvoll empfunden wur-den, stellten sie keine Frauen dar, die einem männlichen Schön-heitsideal entsprachen. Es waren symbolische Darstellungen der Frau schlechthin; ihrer Fähigkeit, Leben zu gebären und es zu nähren. Und damit symbolisierten sie die Große Erdmutter selbst, die alles Leben schuf und nährte. Die Figuren waren
auch Gefäße für den Geist der Großen Mutter des Alls, einen Geist, der viele Formen annehmen konnte.
Aber diese Munai war einzigartig. S'Annuna gab sie Jondalar. "Sag mir, woraus sie gemacht ist", sagte sie.
Jondalar drehte die kleine Figur in der Hand und prüfte sie sorgfältig. Sie war mit riesigen, hängenden Brüsten und breiten Hüften ausgestattet; die Arme waren bis zum Ellenbogen angedeutet; die Beine liefen spitz zu. Obgleich volles Haar den Kopf umgab, hatte sie keine erkennbaren Gesichtszüge. In Größe und Gestalt unterschied sich die Statuette nicht von vielen anderen, die er gesehen hatte; doch das gleichmäßig dunkle Material, aus dem sie gemacht war, war höchst ungewöhnlich. Sein Fingernagel hinterließ keinerlei Kratzspuren. Sie war weder aus Holz noch aus Knochen, Elfenbein oder Hom gefertigt. Sie war hart wie Stein, aber eben und glatt, ohne einen Hinweis auf das Werkzeug, mit dem sie geformt worden war. Wenn sie aus Stein war, dann war es ein Stein, den er nicht kannte.
Er sah S'Annuna verwirrt an. "Ich habe so etwas noch nie gesehen", sagte er.
Er gab Ayla die Figur, und in dem Augenblick, in dem sie sie berührte, lief ihr ein Schauer über den Rücken.
"Diese Munai besteht aus dem Staub der Erde", erklärte die Schamanin.
"Staub?" sagte Ayla. "Aber das ist Stein." "Du hast ihn zu Stein werden lassen? Wie kannst du Staub in Stein verwandeln?" fragte Jondalar ungläubig.
Die Frau lächelte. "Wenn ich es dir sage, wirst du dann an meine Macht glauben?"
"Wenn du mich überzeugen kannst", erwiderte der Mann. "Ich werde es dir sagen; aber ich werde nicht versuchen, dich zu überzeugen. Du wirst dich selbst überzeugen müssen. Ich begann mit hartem, trockenen Ton vom Flußufer und zerstieß ihn zu Staub. Dann vermischte ich ihn mit Wasser." S'Annuna schwieg einen Augenblick und überlegte, ob sie mehr über die Mischung veraten sollte. Sie entschied sich, es zunächst nicht zu tun. "Als er die richtige Konsistenz hatte, wurde er geformt. Feuer und heiße Luft verwandelten ihn in Stein", sagte die Schamanin. Sie beobachtete die beiden Fremden, um zu sehen, wie sie reagieren würden, ob sie sich von dem, was sie ihnen mitgeteilt hatte, beeindruckt zeigen oder es verächtlich abtun würden.
Der Mann schloß die Augen und versuchte, sich an etwas zu erinnern. "Ich habe einmal - von einem Mann der Losadunai, glaube ich - etwas über Mutter-Figuren gehört, die aus Lehm gemacht werden."
S'Armuna lächelte. "Ja, man könnte sagen, daß wir Munai aus Lehm machen. Auch Tiere, wenn wir ihre Geister anrufen müs-sen. Alle möglichen Tiere, Bären, Löwen, Mammute, Nas-hörner, Pferde - was immer wir brauchen. Eine Figur, die aus dem Staub der Erde
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