Zyklus der Erdenkinder 06 - Ayla und das Lied der Höhlen
den Spalten und Schatten der Höhle aufzutauchen schienen, als würde die Mutter sie erschaffen, sie gebären, sie aus der anderen Welt hervorbringen, der Geisterwelt, der großen Unterwelt der Mutter.
Dann vernahmen sie ein Geräusch, das ihnen einen Schauer über den Rücken jagte, das Wimmern eines Löwenjungen. Es ging über in die Laute, die ein junger Löwe ausstößt, wenn er nach seiner Mutter ruft, dann zu den ersten Bemühungen eines jungen Löwenmännchens, das zu brüllen versucht, und schließlich das Schnauben und Knurren, das dem vollen Gebrüll des Löwenmännchens vorangeht, der sein Recht einfordert.
Wie zuvor zeigte sich die Wächterin sehr erstaunt. »Es klingt wie ein Löwe in verschiedenen Wachstumsstadien, woher weiß sie das?«
»Sie hat einen Löwen großgezogen, hat sich um ihn gekümmert, als er aufwuchs, und ihm beigebracht, mit ihr zu jagen«, sagte Jondalar. »Sie hat mit ihm gebrüllt.«
»Hat sie dir das erzählt?«, fragte die Wächterin mit leichtem Zweifel in der Stimme.
»Nun ja, so in etwa. Er kam zurück, um sie zu besuchen, als ich mich in ihrem Tal von einer Verletzung erholte, aber er mochte mich dort nicht sehen und griff an. Ayla trat vor mich, er wand sich und blieb wie angewurzelt stehen. Sie wälzte sich auf dem Boden und umarmte ihn, stieg auf seinen Rücken und ritt auf ihm wie auf Winnie. Nur glaube ich, dass er sich nicht führen ließ, wohin sie wollte, sondern dorthin ging, wohin er sie mitnehmen wollte. Allerdings brachte er sie zurück. Dann habe ich sie gefragt, und sie hat es mir erzählt.«
Seine Geschichte war so geradeheraus, dass sie überzeugend klang. Die Wächterin schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube, wir alle sollten neue Fackeln anzünden. Für jeden von uns dürfte noch eine übrig sein, und ich habe auch ein paar Lampen.«
»Wir sollten mit den Fackeln lieber warten, bis wir alle aus diesem Korridor heraus sind«, schlug Willamar vor.
»Ja, du hast Recht. Kannst du meine bitte auch nehmen?«, bat Jonokol die Wächterin.
Jonokol, Jondalar, Ayla und Willamar hievten die Erste förmlich über die höheren Stufen, während die Wächterin die Fackeln hoch hielt, um den Weg zu beleuchten. Sie warf eine, die fast abgebrannt war, in eine der Feuerstellen entlang der Wände. Als sie zu den Pferdezeichnungen kamen, nahm sich jeder eine neue Fackel. Die Wächterin drückte die teilweise abgebrannten Fackeln aus und steckte sie wieder in ihr Tragegestell. Dann schlugen sie den Weg ein, den sie gekommen waren. Sie sprachen nicht viel und warfen im Vorbeigehen noch einmal einen Blick auf die Tiere. Kurz vor dem Eingang stellten sie fest, wie viel Licht tief in die Höhle drang.
Am Eingang blieb Jonokol stehen. »Würdest du mich zurück in den großen Bereich in dem anderen Raum bringen?«
»Natürlich«, sagte sie, ohne nach dem Grund zu fragen. Sie kannte ihn.
»Ich würde gern mit dir gehen, Zelandoni der Neunzehnten Höhle«, sagte Ayla.
»Das freut mich. Gern. Du kannst meine Fackel halten«, sagte er lächelnd.
Sie hatte die Weiße Grotte gefunden, und er war der Erste, dem Ayla sie gezeigt hatte. Sie wusste, er würde diese schönen Wände eines Tages bemalen, auch wenn er vielleicht ein paar Helfer brauchte. Zu dritt gingen sie in den zweiten Raum der Bärenhöhle, während die anderen ins Freie traten. Die Wächterin schlug einen kürzeren Weg ein, denn sie wusste genau, wohin sie ihn bringen musste, an die Stelle, die er sich angesehen hatte, als sie diesen Teil der Höhle zuerst betreten hatten. Er fand die abgetrennte Nische und die Tropfsteinformationen, die ihm zuvor ins Auge gefallen waren.
Er holte ein Feuersteinmesser hervor, ging zu dem Stalagmiten, dessen oberer Bereich ein Becken bildete, und ritzte mit einer vollendeten Bewegung Stirn, Nase, Maul, Kiefer und Ganasche in das Gestein, dann zwei stärkere Linien für die Mähne und den Rücken eines Pferdes. Er betrachtete es einen Augenblick und ritzte daraufhin oberhalb davon den Kopf eines zweiten Pferdes ein, das in die entgegengesetzte Richtung schaute. Der Stein war hier etwas schwerer zu bearbeiten, und die Stirnlinie geriet nicht so exakt, doch das hielt ihn nicht davon ab, in gleichmäßigen Abständen noch die einzelnen Haare einer aufrecht stehenden Mähne hinzuzufügen. Dann trat er zurück und sah sich sein Werk an.
»Ich wollte dieser Höhle etwas hinzufügen, aber ich war mir nicht sicher, bis die Erste das Lied von der Mutter in den Tiefen dieser Höhle sang«, sagte der
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