Lebensalter und mit zunehmender Entfremdung von der Mutter kann sie sich nun ganz auf die erotische Komponente ihres Erfolgs stützen. Die verführerische, aber letzten Endes kalte Lola Lola ist die Rolle ihres Lebens. Diese spielt sie bis an ihr Ende, mit einzelnen Menschen, Männern wie Frauen, mit Soldaten, mit Bühnenpublikum. Ihrem Vaterbild am nächsten war sie vermutlich in der Zeit, in der sie selbst die Uniform der US-Armee trug und sich in romantische Helden in Uniform verliebte.
Mangelnde (mütterliche) Zuwendung in der frühen Kindheit? Bindungsunsicherheit? Erzwungene Zuwendung durch inszeniertes Verhalten? Wie in einem Psychologielehrbuch finden sich in ihrem Leben die Bedingungen für das Entstehen histrionischer Charaktere. Dramatisierung bezüglich der eigenen Person, theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen? Oberflächliche und labile Affektivität? Andauerndes Verlangen nach Aufregung, Anerkennung durch andere und Aktivitäten, bei denen die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht? Unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten? Übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität? Von sechs Kriterien der histrionischen Persönlichkeitsstörung lassen sich fünf aus ihrer Biographie erschließen, lediglich das Kriterium der erhöhten Suggestibilität muß offenbleiben. Kurzum: Man kann mit guten Gründen vermuten, daß der Mythos Marlene, Schwarm von Millionen von Männern, Vorbild für Millionen von jungen Frauen, nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation eine hochgradig histrionische Persönlichkeit war.
Rückblende: Knapp acht Monate nach Marlene – am 22. August 1902 – und nur wenige Kilometer nördlich von ihrem Wohnort wird die andere Leni, Helene Bertha Amalia Riefenstahl, geboren. Sie ist das erste Kind des Installateurmeisters Alfred Theodor Paul Riefenstahl und der Näherin Bertha Ida Riefenstahl (vgl. zum Folgenden Trimborn, 2001). Der Vater ist ein eitler, gefühlskalter und autoritärer Mann, der seine Freizeit gern auf der Jagd, beim Skat oder auf der Pferderennbahn verbringt. Er hatte sich als erstes Kind eigentlich einen Sohn gewünscht, der sollte aber erst drei Jahre später zur Welt kommen. »Schade, daß du nicht ein Junge geworden bist, und dein Bruder ein Mädchen«, sagt er später zu ihr (Riefenstahl, 1990, S. 25). Die Mutter stammt aus einer armen Großfamilie von 21 Kindern und einem arbeitslosen Vater. Schauspielerin wollte, Näherin mußte sie werden, um ihren Beitrag zum Familieneinkommen zu leisten. Die Heirat mit Alfred Riefenstahl bedeutete Abschied von den eigenen Aufstiegsträumen, aber zugleich eine gesicherte, kleinbürgerliche Existenz.
Lenis Kinderjahre sind von Anfang an schwierig. Der Vater gibt ihr kaum Zuneigung, vielmehr bestraft er sie bei den geringsten Vergehen mit Prügeln, Einsperren oder schweigender Nichtbeachtung. Die Mutter versucht in dieser schwierigen Beziehung zu vermitteln, ist wohl auch heimlich auf der Seite der Tochter. Wenn schon nicht sie selbst, dann soll doch wenigstens Leni Schauspielerin werden: »Lieber Gott, schenke mir eine wunderschöne Tochter, die eine berühmte Schauspielerin werden wird«, hat sie während der Schwangerschaft gebetet (Riefenstahl, 1990, S. 15). Allerdings gerät sie dabei selbst häufig in das Schußfeld des reizbaren Ehemannes. Leni flüchtet aus dieser schwierigen Situation in die Idylle der Natur beim familiären Wochenendhäuschen, aber auch in die Poesie, die Malerei, das Theater und – in den Film. Früh schon setzt sie sich mit kleinen Tanz- und Rollschuhkunststücken in Szene. Dafür wird sie von den theaterbegeisterten Eltern gelobt, Freunden und Verwandten gar als »Wunderkind« vorgeführt.
1918, am Ende ihrer Schulzeit auf dem Lyzeum, bewirbt sie sich erstmals und sogleich erfolgreich um eine Komparsenrolle in dem Film Opium, die sie jedoch aus Angst vor dem Zorn des Vaters nicht annimmt. Bei dieser Gelegenheit entdeckt sie aber den Tanz, sie schreibt sich umgehend für einen Anfängerkurs in der Berliner Tanzschule Grimm-Reiter für künstlerischen Tanz und Körperkultur ein. Durch einen ersten öffentlichen Auftritt erfährt der Vater ein Jahr später davon. Er droht deswegen sofort mit Scheidung, weil er seiner Frau die heimliche Zustimmung zu den Plänen der Tochter vorwirft. Erst als Leni verspricht, ihre Tanzpläne aufzugeben und eine Kunstgewerbeschule zu besuchen, ist er besänftigt. Im Sommer 1920 darf sie den
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