verraten. Und dann erlebte Leni Riefenstahl endlich die Vaterfigur, von der sie so lange nur geträumt hatte: Hitler im Sportpalast. Ihre Beschreibung dieses Moments klingt heute wie die Schilderung eines Orgasmus. Ihm bot sie sich an, und er nahm sie. Daß er ihre erotischen Avancen nicht ausnutzte, machte die Sache nur noch intensiver. Ein Liebhaber oder gar Ehemann Hitler? Das hätte die Enttäuschungen des Alltags nicht lange überstanden. Nur so, ohne sexuelle Erfüllung, konnte die unerfüllte Sehnsucht des kleinen Mädchens zu ihrem autoritären Vater reaktiviert werden. Hitler trat an diese Stelle, er war nun ihre große Liebe, ihre Filme über ihn sind kaum verhohlene Liebesfilme. Mit ihm erlebte sie alles, wonach sie sich gesehnt hatte: Macht, Ansehen, Bewunderung. Was danach kam, war ein langer, quälender Abgesang. Das Ziel ihrer Liebe war jämmerlich gescheitert, er hatte sie – wie alle die anderen Männer auch – alleine zurückgelassen. Bei einem weiteren Ehemann – auch dieser erwies sich später als treulos – oder bei den Nuba fand sich dafür kein Ersatz. Ihre Liebesfilme sind gedreht, sie hatte keine weiteren in sich. Und dann bedrängten sie die Nachkriegsgenerationen, wollten von ihr ein Eingeständnis ihrer Schuld hören. Wofür sollte sie sich entschuldigen? Daß sie diesen Mann geliebt hat, ihm ihre schönsten Werke geschenkt hat? Solche Fragen gingen an ihr vorbei.
Noch einmal gefragt: Mangelnde mütterliche Zuwendung in der frühen Kindheit? Bindungsunsicherheit? Erzwungene Zuwendung durch inszeniertes Verhalten? All dies findet sich. Dramatisierung bezüglich der eigenen Person, theatralisches Verhalten, übertriebener Ausdruck von Gefühlen? Oberflächliche und labile Affektivität? Andauerndes Verlangen nach Aufregung, Anerkennung durch andere und Aktivitäten, bei denen die betreffende Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht? Leni Riefenstahls Leben folgte diesem allgemeinen Drehbuch. Und schließlich auch und besonders bei ihr: erhöhte Suggestibilität, leichte Beeinflußbarkeit durch andere Personen und Umstände. Vier Kriterien einer histrionischen Charakterstörung lassen sich leicht aus ihrer Biographie erschließen. Die Kriterien »Unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten« und »Übermäßiges Interesse an körperlicher Attraktivität« bleiben – wenigstens im Vergleich zu Marlene Dietrich – hingegen undeutlicher.
Die beiden Lenis, Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl, zwei Frauen, die nur wenige Kilometer und Monate voneinander trennten. Beide wurden um die Jahrhundertwende in Berlin geboren. Die eine wurde eine international erfolgreiche Schauspielerin und erhielt für ihren Kriegseinsatz die amerikanische »Medal of Freedom« und die französische Medaille der Ehrenlegion. Die andere wurde, nach einer kurzen Karriere als Tänzerin und »Sportschauspielerin«, die bis heute umstrittene Filmemacherin Adolf Hitlers. Unterschiedlicher können Menschen kaum sein, und dennoch, in einem Punkt sind sie sich ähnlich: Beide sind histrionische Persönlichkeiten.
Wenn es so ist, dann müssen sich auch Gemeinsamkeiten in ihren Biographien finden lassen. Da ist zunächst der dominierende Erziehungsstil in der Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Damals fanden sich millionenfach autoritäre wilhelminische Vaterfiguren, die meistens nur wenig Liebe für ihre Töchter und ihre Frauen hatten. Heinrich Manns Romanfigur Diederich Heßling, »Der Untertan«, gibt eine präzise literarische Diagnose dieses Sozialcharakters. Polizeileutnant der eine, Installateurmeister der andere – mit ihrem sozialen Aufstieg beschäftigt, waren auch die Väter der beiden Lenis vermutlich solche Persönlichkeiten. Sie warteten vor allem auf den Stammhalter zur Sicherung des Besitzes oder der errungenen gesellschaftlichen Position.
Mag es sie im Kaiserreich auch millionenfach gegeben haben, hinzu kommt, daß solche Väter in Berlin in einem anderen gesellschaftlichen Kontext agierten als in der Provinz. Hier zeigte sich besonders nachhaltig eine der bedeutsamsten Veränderungen jener Zeit, nämlich eine generelle Lockerung der Sexualmoral. Die bürgerlich-wilhelminische Moral des 19. Jahrhunderts war zunächst noch eine männlich dominierte, die von der Ehefrau sexuelle Zurückhaltung und Treue forderte, dem Mann aber Pornographie, Bordellbesuche und außereheliche Verhältnisse erlaubte. In den 20er Jahren des zwanzigsten
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