Verrichtungen innerhalb und außerhalb der Arbeit (so sie denn welche hat) mühselige und frustrierende Erfahrungen machen müssen. Da bietet das Fernsehen eine willkommene und wohl auch notwendige Gelegenheit zur Ablenkung. Sie kann die bedrückenden Gefühle und Gedanken des Alltags wenigstens eine Zeitlang regredierend loswerden: Das abgedunkelte Licht läßt die Realität außerhalb des Bildschirms in den Hintergrund treten, der Lieblingsplatz auf dem TV-Sessel oder dem Sofa erfordert eine regressiv-infantile Körperhaltung, Süßigkeiten und weiche Speisen sowie Soft-Drinks erinnern an glücklichere Kinderzeiten, ein wenig Alkohol erhöht die narkotisierende Wirkung der Gesamtinszenierung. So eingestimmt, sucht und findet die »couch potatoe« ihre TV-Märchen, deren Figuren ihr – über den Mechanismus der parasozialen Bindung – endlich das geben, was sie im realen Leben nachhaltig vermißt: sich eins fühlen und umsorgt werden.
Und das zumindest gilt für die anderen Zuschauer auch: Auch ohne Popcorn und Softdrinks reichen Märchen bis zum Abwinken sowie die verläßliche Anwesenheit und nahezu totale Verfügbarkeit geliebter Bezugspersonen alleine für einen regressiven Ausflug in das verlorengegangene oder nie so recht erfahrene Paradies der Kindheit aus. Es ist ja kein Zufall, daß ältere Zuschauer ab 60 Jahren um die vier Stunden täglich fernsehen; ihr tristes, oft einsames Leben scheint keine sinnvollere, zumindest keine leichter zu realisierende Alternative zu bieten. Die TV-Nutzungszeiten in den östlichen Bundesländern sind ja auch deswegen höher als im Westen, weil dort die Arbeitslosigkeit sehr viel höher ist. Und daß Menschen, die im Laufe des Tages eine frustrierende Situation erleben mußten, abends länger fernsehen als andere, spricht auch für die regressive Funktion des Mediums (Kubey & Csikszentmihaly, 1990, S. 131 ff.). Je belastender das Alltagsleben wird, um so größer ist offenbar die Versuchung, den dadurch erlittenen Frustrationen durch orale Regression vor dem Fernsehen zu entkommen.
So plausibel dies auch erscheinen mag, eine Frage bleibt schon noch offen: Warum gerade eine Regression in die orale und nicht etwa in die anale oder phallische Phase? In der analen Phase beispielsweise könnten dies Tätigkeiten wie selber machen, basteln und sammeln oder Charaktereigenschaften wie Sparsamkeit, Geiz, Trotz und Eigensinn sein. Der Grund für die ausgeprägte kollektive Lust am Fernsehen – noch einmal: im Durchschnitt dreieinhalb Stunden täglich bei uns, viereinhalb Stunden täglich in den USA – liegt in der allen gemeinsamen Erfahrung zunehmender Bindungsunsicherheit. Unter dem Eindruck ständig gefährdeter sozialer Beziehungen in der Familie, der Arbeit, den Vereinen und der Nachbarschaft wird der Wunsch nach sicheren Bindungen mächtig. Bowling alone hatte Robert D. Putnam (2000) dies mit deprimierender Präzision genannt. Wer alleine kegeln muß, sucht (para-)soziale Surrogate, die die drohende Isolation erträglicher machen. Das Fernsehen bietet sie ihm, verbunden mit dem süßen Versprechen des dauerhaften Umsorgtwerdens. Fernsehen wird so zum dominierenden Regressionsmodus der durch Bindungsunsicherheit gekennzeichneten Gesellschaften.
Aber wie in jedem anständigen Märchen gibt es immer einen Pferdefuß, wenn ein willfähriger Geist einem eine Zeitlang alle Wünsche erfüllt. Meistens verkauft man – wie ja beim Holländermichel auch – sein Herz dabei. Das ist beim Fernsehen auch nicht anders: Indem man es regressiv nutzt, prägt es zugleich das Handeln, Denken und Fühlen des Nutzers.
Bleiben wir fürs erste bei der Regression als einem Aspekt des Handelns. Sie ist ein immer nur vordergründig und zeitweilig Erleichterung verschaffender Abwehrmechanismus, der an einer insgesamt unbefriedigenden Lebenssituation nichts ändert. Insofern bedeutet regressives Handeln immer auch den Verzicht auf progressives, eine Situation dauerhaft zum Besseren veränderndes Handeln. Zwar benötigt jeder Mensch zur Lebensbewältigung seine Abwehrmechanismen; sind es doch »... automatische psychologische Prozesse, die die Person vor Angst und vor dem Bewußtsein innerer oder äußerer Gefahren oder Belastungsfaktoren schützen. Betroffene sind sich des Wirkens dieser Prozesse oft nicht bewußt« (Saß et al., 1996, S. 842). Aber nicht alle Abwehrmechanismen sind gleich gut. Der Saarbrücker Psychoanalytiker Rainer Krause gruppiert solche Mechanismen von »hoch adaptiv« bis
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