Ereignisse gerade recht. Aber auch das verbraucht sich auf die eben beschriebene Art und Weise. So zynisch es klingt, aber heute noch aktivierende Bilder langweilen die Zuschauer morgen schon. Ein weiteres Attentat auf einen Wolkenkratzer wird nicht mehr die emotionale Wirkung haben wie das erste. Um die Einschaltquoten auch weiterhin hoch zu halten, muß das Medium immer stärkere Bilder verwenden, direkt übertragene Kriegsbilder von »embedded journalists« sind etwa so ein Mittel. Die Folge ist eine Gewaltspirale. Das nächste Mal werden den Soldaten – und am besten gleich den Sanitätern – Kameras auf ihre Helme montiert, und der Zuschauer kann sich aussuchen, ob er lieber die Bilder von der Nord- oder von der Südfront sehen will. Die zu erwartenden Wirkungen sind mindestens Mitleidsmüdigkeit, womöglich sogar »blaming the victim« – die Opfer werden ihr Leiden irgendwie schon verdient haben. Mit dieser Dynamik von schneller, oberflächlicher Emotionalisierung, Habitualisierung, weiterer Emotionalisierung, erneuter Habitualisierung usf. wird das Medium jeden Tag aufs Neue zum Vermittler einer sehr speziellen »education sentimentale«: Es kultiviert eben jene Emotionalität des histrionischen Charakters – schnell erregt, flach, oberflächlich, labil, theatralisch und wenig differenziert.
Orale Regression, »celebrity identification«, histrionischer Kognitionsstil und eine entsprechende »education sentimentale« – das ist nun endlich der ganze Preis, den der scheinbar so gefügige Geist »Fernsehen« für seine Dienste fordert. Es ist ein hoher Preis, aber der Zuschauer zahlt ihn gerne, weiß oft nicht einmal, daß er ihn zu zahlen hat: Er kann seine innere emotionale Leere mit einem ständig fließenden Strom von Bildern und Berichten kaschieren, findet scheinbaren Halt bei seinen treuen TV-Freunden und wird in einer Weise kognitiv und emotional versorgt, wie er es gern hat, nämlich lebhaft, verblüffend, nachdrücklich, mit einer insgesamt oberflächlichen, gelegentlich überbordenden Emotionalität. Und wenn er es weiß, will er es womöglich gar nicht so genau wissen, denn nicht nur »... fallen die Menschen, wie man so sagt, auf Schwindel herein, wenn er ihnen sei es noch so flüchtige Gratifikationen gewährt; sie wollen bereits einen Betrug, den sie selbst durchschauen; sperren krampfhaft die Augen zu und bejahen in einer Art Selbstverachtung, was ihnen widerfährt, und wovon sie wissen, warum es fabriziert wird. Uneingestanden ahnen sie, ihr Leben werde ihnen vollends unerträglich, sobald sie sich nicht länger an Befriedigungen klammern, die gar keine sind« (Adorno, 1977, S. 342).
Daraus wird auch deutlich, daß das Fernsehen nicht die Ursache für das Entstehen des histrionischen Sozialcharakters ist. Es trägt jedoch zu seiner Ausformung und Stabilisierung ganz erheblich bei, weil es dem Histrio eine ideal passende Möglichkeit bietet, seine Defizite im persönlichen Leben zu kompensieren und pathologische Fehlentwicklungen zu stabilisieren. Dadurch kultiviert es in vielfacher Weise das Entstehen eines neuen Sozialcharakters. In der Interaktion entsteht ein Typus, der leicht erregbar, suggestibel und emotional oberflächlich ist, sich als wenig interessiert, konzentrationsunfähig und ungebildet erweist, sein Verhalten an medialer Prominenz ausrichtet und sich obendrein auch noch gern aus der Realität in eine Welt oraler Regression zurückzieht. Keine schöne Vorstellung. Und erinnert das nicht ein wenig an den eingangs erwähnten Peter Munk? Auch er wollte so sein wie die lokale Prominenz, die bessergestellten Glasmänner, Uhrmacher und Flößer, tauschte darum sein warmes, lebendiges Herz gegen ein steinernes ein. Aber um welchen Preis: »... es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine Musik, kein Tanz, sein Herz von Stein nahm an nichts Anteil und seine Augen, seine Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben als die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langeweile schlief« (Hauff, 1989, S. 54). Ein kaltes Herz eben.
13. Vereisung – Unterwegs in die Erlebnisgesellschaft
Sonntag, der 30. Oktober 1938. Am Abend dieses Tages konnten die Hörer des amerikanischen Senders CBS die folgende Durchsage eines Brigadegenerals namens Montgomery Smith hören: »Der Gouverneur von New Jersey hat mich gebeten, den Ausnahmezustand über die
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