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Titel: Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Pan
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ausgerichteten Weise. Man inszeniert sich, aber stilvoll und verhalten und vor allem in Abgrenzung von den anderen Milieus. Das Streben nach Perfektion als zentrale Lebensphilosphie hat leichte Anklänge an zwanghafte Charakterstrukturen. Da auch der TV-Konsum eher auf politische, zeitgeschichtliche und kulturelle Sendungen ausgerichtet ist, findet der histrionische Charakter in diesem Milieu nur wenig Resonanz.
    Und das gilt auch für das Integrationsmilieu: Mit seinem ausgeprägten Streben nach Konformität als Lebensinhalt ist es Neuerungen gegenüber distanziert, lehnt das Spannungsschema der Jüngeren ab. In seiner Position zwischen dem Niveau- und dem Harmoniemilieu vertritt es Perfektion und Harmoniestreben als zentrale Lebensinhalte. Das soziale Leben ist nach innen gerichtet, die nette Runde im Freundeskreis ist das Muster erfüllten Lebens. Entsprechend ist der TV-Konsum: Leichte, gerne volkstümliche Unterhaltung und klassische Bildungsorientierung sind auch nicht eben Lehrfilme des histrionischen Charakters.
    Die nach Innen gerichtete Lebenstendenz mit ihrer Ablehnung von Innovation und Extravaganz wird schließlich beim Harmoniemilieu am deutlichsten. Gilt bei den Jüngeren die auffallende Erscheinung als attraktiv, so ist es hier das Gegenteil: Schlicht, korrekt, dezent, unauffällig will man sein. Angst ist das vorherrschende Lebensgefühl dieser Gruppe, der man mit einer militanten Binnenorientierung und radikaler Harmoniesucht begegnet.
    So scheint nach allem der Verbreitung des histrionischen Sozialcharakters nach oben, in die älteren Milieugruppen, eine deutliche Grenze gesetzt. Im Niveaumilieu ist – wie der Schweizer Psychoanalytiker Jürg Willi meint – »der anale Charakter die häufigste Charakterstruktur ... Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Reiß, Sauberkeit, Korrektheit, Sparsamkeit und Ordnungsliebe sind Qualitäten, die auf dem Tugendweg der Leistungsgesellschaft in besonderer Weise prämiert werden« (Willi, 1997, S. 107). Im Harmoniemilieu hingegen finden wir eher ängstlichvermeidende Charaktertypen; hinsichtlich einer histrionischen Modifikation des Sozialcharakters sind sie nicht einmal Nachzügler. Im Integrationsmilieu finden sich beide Züge wieder. Sowohl den eher zwanghaft-analen wie den ängstlich-vermeidenden Charakteren sind aber die überbordenden Inszenierungsstrategien des Histrio allesamt ziemlich fremd.
    Das muß auch so sein, handelt es sich bei allen drei Gruppen doch um Menschen, die im Jahr 1985, zum Zeitpunkt der Untersuchung von Schulze (1992), im Mittel bereits über 40 Jahre alt waren. In der Zeit vor 1945 geboren, haben sie einen völlig anderen Erlebnishintergrund als die Jüngeren. Da sie inzwischen aber ein Lebensalter von Mitte 60 erreicht haben, gehen ihr Einfluß auf die Gesellschaft und die Verbreitung der für diese Gruppen typischen Charakterstruktur quantitativ und qualitativ zurück. An ihre Stelle treten die ersten histrionisch gefärbten Milieus, die vormals unter 40 Jahre alten Gruppen.
    Wie aber haben sich die Veränderungen von Mentalität und Charakter bei den Jüngeren vollzogen? Das Spannungsschema gibt dafür einen wichtigen Hinweis. Die ständige Reizsuche, die Unruhe, das erhöhte Aktionspotential, die expressive Betonung des eigenen Körpers, die Selbstwahrnehmung als interessant, aufregend, faszinierend und einmalig – alles Charakterisierungen der Milieugruppen unter der 40-Jahr-Grenze. Und alles nicht allzuweit entfernt von den Merkmalen, die auch den Histrio charakterisieren. Man kann also behaupten: Das Selbstverwirklichungsmilieu und das Unterhaltungsmilieu sind auch die Laichplätze des Histrio. Das leuchtet ein, war doch in dieser Nachkriegsgeneration die Erfahrung der Bindungsunsicherheit bereits ausgeprägt; von der »vaterlosen Gesellschaft« hat Mitscherlich (1963) seinerzeit geschrieben. Aber beide Milieus reagieren in ganz verschiedener Weise, jetzt nämlich in Abhängigkeit von ihrer formalen Bildung: Das besser gebildete Selbstverwirklichungsmilieu hat aus der Not der Bindungsunsicherheit eine Tugend gemacht, das ungebildete Unterhaltungsmilieu ein hedonistisches carpe diem.
    Aus der Not eine Tugend machen – in der Psychoanalyse wird dafür der Begriff der Rationalisierung verwendet. Damit ist die scheinbar rationale, positive Etikettierung von unangenehmen Zuständen oder Einsichten gemeint. Rationalisierung wirkt als innere Ausrede, um sich nicht mit unangenehmen und schmerzhaften Dingen beschäftigen zu müssen.

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