Wie verlaufen die behaupteten Rationalisierungsprozesse nun im Selbstverwirklichungsmilieu? Vermutlich so: Die Mitglieder dieses Milieus kamen im Verlaufe ihres Bildungsgangs in Kontakt mit dem Ich-Ideal der Lehrer und Professoren, allesamt Angehörige des älteren Niveaumilieus. In deren Vorstellungen klingt noch heute die Idee des allseits entfalteten, sittlich autonomen, politisch und wirtschaftlich selbstbewußten Individuums der Aufklärung und des deutschen Bildungsbürgertums nach. In diesem Konzept meint die Individualität eines Menschen seine Einzigartigkeit: »Individualität... wird zum programmatischen Deutungsmuster zur Emanzipation befähigter rechtsgleicher Bürger. Bildung als Selbstgestaltung wird zur Signatur schöpferischer Individuen, die durch keine fremde Zwecke gegängelt werden wollen« (Meyer-Drawe, 1997, S. 703). Diese Idee geben sie explizit und implizit an die nächste Generation weiter, die diese aber aufgrund ihrer konkreten Lebenserfahrungen umformt, umformen muß. So gehört zu den Anforderungen der Nachkriegsgesellschaft – wie oben dargelegt – die ständige Bereitschaft zur Veränderung. Die Idee einer zielgerichteten Entwicklungsdynamik des Individuums mutiert in der bindungsunsicheren Generation so zum Zwang ständiger Veränderungsbereitschaft. Alles im Leben muß vorläufig, revidierbar bleiben, das Individuum kann, ja darf nicht mehr irgendwo und irgendwann ankommen.
Das Selbstverwirklichungsmilieu reagiert darauf, indem es die in allen Lebensbereichen erfahrenen Provisorien zu erstrebenswerten Zuständen erklärt: Man war und ist auf Trips – »Familientrip, Therapietrip, Eigenheimtrip, Geldtrip, Alternativtrip, Karrieretrip, Sporttrip usw.« (Schulze, 1992, S. 316) – und denkt dabei an einen vorübergehenden, wohl auch nicht ganz ernstzunehmenden Zustand. Der Begriff meint ja ursprünglich die emotionale und mentale Befindlichkeit nach Einnahme bewußtseinsverändernder Drogen. Die chronische Unbehausheit der Nachkriegsgenerationen wird so durch den vornehmen Begriff der Selbstverwirklichung geadelt. Das arme, angestrengte Ich, das durch die Verhältnisse zu ständigen Veränderungen und Anpassungen gezwungen wird, läßt sich damit einreden, daß nur dies der Zustand sei, in dem es sich auf Dauer wohl fühle. Daß diese Sichtweise dem andauernden histrionische Verlangen nach Aufregung durchaus entgegenkommt, ändert nichts daran, daß dies letztlich eine Rationalisierungsstrategie ist.
Ein zweiter Gesichtspunkt kommt zur so verstandenen Idee von individueller Entwicklung noch hinzu: Individualität verstanden als emanzipierte Einzigartigkeit. Auch diese bürgerliche Tugend ist inzwischen außer Mode gekommen, einzigartig im oben skizzierten Sinne muß, ja darf der Mensch in der globalen Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr sein. Hier sind hingegen gut funktionierende Selbstinszenierer gefragt. Entsprechend wird auch diese, nun altmodische Seite bürgerlicher Individualität angepaßt: Individualität meint heute eher inszenierte Singularität, gekonnte Dekoration ersetzt intensive Charakterbildung. Und je mehr der Mensch gehalten ist, solche Inszenierungen als Teil von Gefühlsarbeit auf dem Arbeitsmarkt der Dienstleistungsgesellschaft zu verkaufen, um so mehr muß er sich anstrengen. Veranstaltungen dieser Milieugruppen, wie etwa die Frankfurter Buchmesse oder das Berliner Filmfest, sind geradezu Mustermessen der Inszenierungskonkurrenz: Für Männer sind Pferdeschwänzchen und Indiana-Jones-Hüte völlig out, Glatzen und Designerbrillen noch einigermaßen en vogue, kurzgeschnittene graue Haare und schwarze Anzüge hingegen ein Muß.
In einer Hinsicht allerdings sind sich alle hochinszenierten Individualisten einig: So ausgeprägt die Konkurrenz untereinander sein mag, in der Ablehnung der bildungsmäßig unter ihnen stehenden sozialen Gruppen stehen sie zusammen. Ob es die eben aktuelle italienische Mode ist, die man kurz vor den anderen in »seiner« Boutique kauft, ob es der inzwischen in jeder niedersächsischen Mittelstadt zu findende »Italiener« ist, der nur seinen Stammgästen ein nicht auf der Karte stehendes und damit ganz individuelles Angebot offeriert, oder ob es die ausgesuchten Reiseziele der »Individual«-Reisenden sind, bei denen Touristen immer nur die anderen Reisenden sind – immer gilt die Regel: Inszenierungskonkurrenz gibt es nur untereinander, nach unten wird gemeinsam abgewehrt. Diese soziale Grenzarbeit (Müller, 1994) hat ja
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