auch noch gern aus der Realität in eine Welt oraler Regression zurückzieht – der Histrio eben.
Nach allem finden sich hinsichtlich der Entstehung und Verbreitung des histrionischen Sozialcharakters deutliche, vor allem vom Lebensalter abhängige Unterschiede. Dabei haben wir ein Problem noch gar nicht angesprochen, nämlich: Was heißt hier »40-Jahr-Grenze«?
Sie ist auf der Basis von Daten aus dem Jahr 1985 gefunden worden. Mittlerweile sind zwanzig Jahre vergangen, so daß daraus vermutlich eine 60-Jahr-Grenze geworden ist. Für diese Vermutung spricht zum einen das psychologische Argument, daß grundlegende soziale Einstellungen mit zunehmendem Lebensalter immer schwerer verändert werden. Auch legen beobachtbare Denk- und Verhaltensweisen des (damaligen) Selbstverwirklichungsmilieus diesen Eindruck nahe. Wer kennt das nicht aus dem eigenen Bekanntenkreis: Die Sozialkundelehrerin, die, mit den Jahren etwas füllig geworden, gleichwohl noch immer in den knappen Jeans ihrer besten Jahre an der Uni München herumläuft. Oder der Psychologe, der noch immer Bart, Haarschnitt und Kleidung seiner revolutionären Marburger Studentenzeit trägt. Gemeinsam mit ihren Kindern gehen sie zum Stones-Konzert, um dort den 60jährigen Männern bei der Arbeit zuzusehen: »I can get no ... !« Sowas gibt man doch nicht ohne Not auf. Als seriösen Beleg für die Verschiebung der 40-Jahr-Grenze lassen sich die Altersgrenzen aus dem SI-NUS-Modell heranziehen: So reichen die Postmateriellen von Anfang 20 bis zu den »jungen Alten«, die Bürgerliche Mitte umfaßt 30- bis 50jährige, die Etablierten sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, die Konsum-Materialisten enden, und die Konservativen beginnen bei den 60jährigen.
Wie sieht es also mit der Mentalität der heute jüngeren Milieugruppen aus? Dazu müssen wir zunächst fragen, ob und gegebenenfalls wie sich die Sozialisationsbedingungen dieser Gruppen verändert haben. Dies läßt sich vergleichsweise schnell mit zwei Stichworten beantworten: Globalisierung und Medialisierung.
Globalisierung meint, daß die aktuellen wirtschaftlichen Prozesse vom Individuum wie nie zuvor die Herauslösung aus seinen traditionellen Bindungen fordern. Der bereits mehrfach zitierte amerikanische Soziologe Sennett (1998, S. 15) hat die psychischen Folgen anschaulich so beschrieben: »Vor kurzem traf ich jemanden auf dem Flughafen, den ich seit fünfzehn Jahren nicht gesehen hatte. Ich hatte den Vater von Rico (wie ich ihn im folgenden nennen werde) vor einem Vierteljahrhundert für mein Buch über amerikanische Arbeiter ... interviewt. Enrico arbeitete damals als Hausmeister und setzte große Hoffnungen in seinen Sohn, einen aufgeweckten, sportlichen Jungen, der gerade in die Pubertät kam. Als mein Kontakt zu seinem Vater zehn Jahre später abbrach, hatte Rico gerade das Studium abgeschlossen. In der Flughafenlounge sah Rico aus, als habe er die Träume seines Vaters verwirklicht. Er hatte einen Computer in einem eleganten Lederköfferchen dabei, trug einen Anzug, den ich mir nicht hätte leisten können, und an seinem Finger steckte ein dicker Siegelring mit Wappen.«
Ricos Leben ließ sich zunächst gut an, hatte er doch zunächst in Boston Elektrotechnik studiert, sich dann in New York an einer Business School eingeschrieben. Dort heiratete er eine Kommilitonin, eine Protestantin aus einer bessergestellten Familie. Er begann seine Berufslaufbahn als technischer Berater in einer High-Tech-Firma im Silicon Valley und arbeitete anschließend erfolgreich in Chicago. Der nächste Umzug war wegen der Berufstätigkeit seiner Frau erforderlich und führte ihn in eine weniger attraktive Stelle in einen Büropark nach Missouri. Dort erlebte er seinen ersten Karriereknick: Die Firma wurde von einer größeren aufgekauft, und er wurde entlassen. Das Paar zog ein viertes Mal um, wieder in die Nähe von New York, wo Rico seine eigene Consulting-Firma gründete. Seine Frau leitet in einer Firma ein großes Team von Buchhaltern. Trotz ihres Wohlstands und obwohl sie das Modell eines anpassungsfähigen, einander unterstützenden Ehepaares zu sein scheinen, leiden beide unter ständiger Angst – vor fremdbestimmter Zeiteinteilung, vor jeder neuen Geschäftsbeziehung, dem Verlust von Aufträgen, vor den Launen der Auftraggeber.
Gravierender sind jedoch Veränderungen im privaten Leben: So beklagt Rico, daß durch die häufigen Umzüge sich viele freundschaftliche Verbindungen vor Ort aufgelöst hätten. Ihm
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