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Titel: Kostenlos Bücher Online Lesen
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war, die ihr Vater, wie sie selbst sagte, nie verlassen hatte.
    Mir gefällt der Gedanke, daß ich mich mehr von Phantasie als von Vernunft leiten lasse. Zum Beispiel hatte ich in Betracht gezogen, daß Dr. Tessler in rasenden Wahnsinn verfallen war und daß der Raum, den er nie verlassen hatte, sich als eine Art Gummizelle erweisen würde. Aber von Auspolsterung konnte überhaupt keine Rede sein. Der Raum ähnelte weit mehr einem Kerker. Es schien nicht recht möglich, daß Sallys Vater während ihrer gesamten Kindheit irgendwie unter Kuratel gestanden haben sollte. Auch glich der Raum in fürchterlicher Weise einem Grab. Konnte der Doktor einer jener Visionäre gewesen sein, die sich endlosem Brüten über ›Das Ende‹ hingeben und sich mit Symbolen der Sterblichkeit schmücken wie Donne mit seinem Leichentuch? Es war schwer zu glauben, daß Sally ihrem Vater darin nacheifern würde ... Ich glaube, einige Zeit wehrte ich mich gegen die wahrscheinlichste Lösung, indem ich jeder anderen Vermutung, die mein Verstand aufzubieten vermochte, ernsthafte Bedeutung beimaß. Schließlich stellte ich mich der Tatsache, daß die Örtlichkeit mehr einer Festung glich als einem Verlies oder einem Grab; und die Idee, daß es etwas in dem Haus gab, gegen das man sich schützen mußte, war zwingend. Die verschlossenen Türen, das Bild des Verfalls im zweiten Stock, Sallys Verhalten. Ich hatte es die ganze Zeit über gewußt. Ich schaltete die trübe Lichtquelle, die an einem gedrehten Kabel hing, aus. Als ich die Tür der Bibliothek verschloß, machte ich mir Gedanken über die unbekannten Plagen, die mein gestriges Versäumnis, das Haus so zurückzulassen, wie ich es vorgefunden hatte, möglicherweise nach sich gezogen hatte. Ich ging die paar Schritte von der Bibliothek zum Wohnzimmer durch den Korridor zurück, in Gedanken versunken und wachsam zugleich. Aber nicht zu tief in Gedanken versunken oder wachsam genug für meinen Seelenfrieden. Denn als ich in dem fast vollständig verschwundenen Tageslicht in das Wohnzimmer zurückkehrte, sah ich, wenn auch nur einen Augenblick, eine Sekunde, ein flüchtiges Aufblitzen lang, ihn.
    Als wolle er zu meinem Gewinn das karge Licht ganz ausschöpfen, stand er direkt vor dem großen Erkerfenster. Wie er sich mir darbot, sah ich ihn zu drei Vierteln von hinten. Aber ich konnte einen Teil der Konturen seines Gesichtes erkennen: vollkommen weiß (etwas, das man gesehen haben mußte, um es zu glauben), die Haut straff über die Knochen gespannt wie mit einem Abbinder. Ich sah eine Ahnung dünnen Haars. Ich glaube, er trug Schwarz, ein Gewand, das mir ein Gehrock zu sein schien. Er stand gebeugt und schattenhaft, abgesehen von dem Schimmern des weißen Gesichts. Naturgemäß konnte ich seine Augen nicht erkennen. Unnötig zu erwähnen, daß er fast schon im gleichen Augenblick verschwunden war, da ich ihn erblickt hatte, aber es wäre ungenau zu sagen, daß er augenblicklich verschwand. Mir blieb Zeit für einen Lidschlag. Zuerst glaubte ich, tot oder lebendig, Dr. Tessler zu sehen, doch gleich darauf dachte ich das nicht mehr.
     
    An diesem Abend unternahm ich den Versuch, meinen Vater ins Vertrauen zu ziehen. Ich hatte in ihm immer den gütigsten Menschen der Welt gesehen, von dem es mich indes weit fortgetragen hatte. Nun war ich, wie häufig anderen gegenüber, gespannt auf verblüffende Reaktionen von seiner Seite.
    Nachdem ich meine Geschichte beendet hatte (ich erzählte ihm allerdings nicht alles), wobei er aufmerksam lauschte und ab und an eine kluge Frage über einen Punkt einflocht, den ich unzureichend erläutert hatte, sagte er: »Wenn du willst, sage ich dir, was ich davon halte.«
    »Bitte.«
    »Es ist ganz einfach. Die ganze Sache geht dich nichts an.« Er lächelte, um seinen Worten den Stachel zu nehmen, aber unter der Oberfläche wirkte er ungewöhnlich ernst.
    »Ich habe Sally gern. Im übrigen hat mich Miss Garvice darum gebeten.«
    »Miss Garvice hat dich gebeten, nach der Post zu sehen, nicht darum, im Haus herumzustöbern.«
    Das war zweifellos mein schwacher Punkt. Aber alles in allem war es auch kein Punkt für ihn.
    »Sally hat die Postzustellung aufgekündigt«, konterte ich. »Sie holte gerade ihre Briefe vom Postamt ab, als sie überfahren wurde. Ich kann mir nicht denken, warum.«
    »Gib dir keine Mühe.«
    »Was ist mit all dem, was ich gesehen habe? Auch wenn ich kein Recht hatte, im ganzen Haus herumzulaufen.«
    »Mel«, entgegnete mein Vater, »du bist

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