mir über die Verwahrlosung hinaus irgendwie beängstigend vorkam. Die ursprüngliche Tür, die von dem kleinen Treppenabsatz in den großen Raum geführt hatte, war allem Anschein nach gewaltsam aufgebrochen worden, und zwar von innen (auffälligerweise war sie so eingehängt, daß sie sich nach außen öffnete). Die Beschädigung war anscheinend nicht in jüngster Zeit erfolgt (es ist allerdings nicht einfach, so etwas zu datieren); aber die geborstene Tür hing noch trübselig in ihrer massiven unteren Angel nach außen und ließ es fast unmöglich erscheinen, den Raum überhaupt zu betreten. Behutsam zog ich ein wenig daran. Das gesplitterte Holz der schweren Tür kreischte durchdringend, als ich es in Bewegung versetzte.
Ich spähte hinein. Die ursprüngliche Form des Raumes war endgültig ruiniert worden, als man den Lattenrost eingebaut hatte, der das Bad abtrennte und mit blasigem, dunkelbraunem Firnis überzogen war. Er enthielt lediglich vermoderndes Spielzeug. Das Kinderzimmer, wie mir die Erinnerung an die Außenansicht sagte. Durch den Spalt zwischen der querhängenden Tür und deren Rahmen warf ich einen Blick auf die vergitterten Fenster. Wie alles übrige in dem Haus wirkten auch die Gitterstäbe überaus massiv. Ich betrachtete noch einmal das Spielzeug. Ich bemerkte, daß es sich augenscheinlich ausschließlich um Kuscheltiere handelte. Sie waren verschimmelt und mottenzerfressen, aber dennoch war zu erkennen, daß einige von ihnen offensichtlich verstümmelt worden waren. Da lagen das zerfallende Bein eines Teddybären, etliche Zentimeter vom Torso entfernt, sowie der abgetrennte Kopf eines einfallsreich gemusterten Vogels. Die Szene war so unerfreulich wie alles in dem Haus.
Womit hatte Sally sich den ganzen Tag lang beschäftigt? Wie ich vermutet hatte, ganz sicher nicht mit Hausputz. Blieben noch die Küchenräume – und natürlich die Bibliothek des verstorbenen Doktors.
Im Untergeschoß fanden sich eigenartige Speisereste und Hinweise darauf, daß noch vor kurzem, allerdings dürftig, gekocht worden war. Ich war beinahe überrascht, als ich feststellte, daß Sally nicht von Luft allein gelebt hatte. Insgesamt aber vermittelte das Untergeschoß nichts Ungewöhnlicheres als durchaus vertraute Verwunderung über Umfang und Beschwerlichkeit von Koch-Operationen in den Häusern unserer mittelständischen Urgroßväter.
Ich sah mich nach einer Kerze um, die mir in der Bibliothek Licht spenden sollte. Ich öffnete sogar diverse Schubladen, Verschlage und Schränke. Es schien keine Kerzen zu geben. Der Bibliothek wäre ohnehin, dachte ich, in der herabsinkenden Dämmerung leicht fröstelnd, mit einer Kerze allein nicht beizukommen. Das nächste Mal würde ich die imposante Stablampe meines Vaters mitbringen.
Anscheinend blieb nichts mehr zu tun. Ich hatte nicht einmal meinen Mantel ausgezogen. Ich hatte wenig genug entdeckt, das geeignet war, das Geheimnis zu enträtseln. Ob Sally Rauschgift nahm? Das schien mir sehr weit hergeholt. Ich schaltete das Licht in der Küche aus, stieg zum Erdgeschoß hoch und dann, nachdem ich die Haustür geschlossen hatte, wieder hinunter in den Garten. Ich beäugte das kaputte Eingangstor mit neuem Argwohn. Einige Zeit später fiel mir ein, daß ich keine der Türen im Haus wieder verschlossen hatte.
Am nächsten Morgen wurde ich im Gemeindekrankenhaus vorstellig.
»In gewisser Weise«, sagte Miss Garvice, »geht es ihr viel besser, was einigermaßen erstaunlich ist.«
»Kann ich sie sehen?«
»Leider nicht. Sie hat unglücklicherweise eine sehr unruhige Nacht hinter sich.« Miss Garvice saß mit einer großen gelben Katze auf dem Schoß hinter ihrem Schreibtisch. Als sie sprach, blickte die Katze mit einem Ausdruck gelassener Neugier zu ihr auf.
»Schmerzen?«
»Nicht wirklich, glaube ich.« Miss Garvice schob den Kopf der Katze nach unten auf ihre Knie. Sie machte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Sie hat die ganze Nacht geweint. Und geredet. Eher Hysterie als Fieberwahn. Schließlich mußten wir sie aus dem Gemeinschaftssaal verlegen.«
»Was redet sie denn?«
»Es wäre nicht fair unseren Patienten gegenüber, wenn wir wiederholten, was sie reden, wenn sie nicht bei Sinnen sind.«
»Sicher nicht. Aber ...«
»Ich gebe zu, daß ich überhaupt nicht begreifen kann, was mit ihr los ist. Mit ihrem Verstand natürlich, meine ich.«
»Sie hat einen Schock erlitten.«
»Ja ... Aber als ich sagte ›Verstand‹, hätte ich vielleicht besser
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