Hinterkopf und im Nacken.
»Schön, daß es dir bessergeht, Sally. Ich hatte dich vorerst nicht hier erwartet.« Meine Worte klangen unwahrscheinlich dumm.
Sie sagte darauf nichts, sondern streckte nur ihre Hand aus. Auch sie sah anders aus: grau und knochig, mit knotig hervortretenden Venen. Ich händigte ihr den großen Schlüsselbund aus. Ich fragte mich, wie sie ohne ihn das Haus betreten hatte. Das Tier über uns wimmerte ohne Unterlaß weiter. Jetzt schien ein Geräusch hinzuzukommen, das mir wie das Scharren eines Schweins vorkam. Unwillkürlich blickte ich zur Decke hinauf.
Sally nahm die Schlüssel, nahm sie behutsam und sanft, ohne Heftigkeit, und verdrehte in Parodie meines Blicks ihre stumpfen Augen nach oben und stieß ein ohrenbetäubendes, kreischendes Gelächter aus.
»Magst du Kinder, Mel? Möchtest du mein Baby sehen?«
Das gab mir wirklich den Rest, ich weiß nicht mehr genau, wie ich darauf reagierte.
Sally schien nun von schrecklichem Stolz erfüllt. »Glaube mir, Mel«, sagte sie, »es gibt Wege, auf die Welt zu kommen, die du dir nicht träumen läßt.«
Ich hatte wieder angefangen zu zittern, aber Sally packte mich mit ihrer grauen Hand und begann, mich die Kellertreppe hinaufzuziehn.
»Willst du Patentante sein? Komm, sieh dir dein Patenkind an, Mel.«
Die Laute kamen aus der Bibliothek. Ich umklammerte das obere Ende des Geländers. Verwirrt wie ich war, wurde mir dennoch klar: Das scharrende Geräusch hatte etwas zu tun mit dem Zerreißen von Dr. Tesslers Büchern. Aber es war vor allem das keuchende, kehlige Geschrei der Kreatur, das mir Herz und Muskeln zu Wasser verwandelte.
Oder zu Stahl. Denn während Sally nach mir griff, um mich vom Geländer fort und in die Bibliothek zu zerren, bemerkte ich plötzlich, daß sie überhaupt keine Kraft hatte. Was immer ihr zugestoßen sein mochte, sie war schwach wie ein Gespenst.
Ich riß mich von ihr los, ließ das Geländer fahren und wollte zur Haustür. Sally begann, mein Gesicht und meinen Hals zu zerkratzen, aber ich setzte mich ganz beachtlich zur Wehr. Da fing Sally an, mit ihrer unnatürlichen Stimme laut zu schreien: Sie versuchte, die Kreatur in den Flur zu zitieren. Sie kratzte und zerrte, während sie ächzend einen Strom gräßlicher Koseworte für das Ding in der Bibliothek hervorstieß.
Schließlich fand ich meine Hände um ihren Hals geschlossen, der trotz des kalten Wetters nackt war. Ich konnte diese zerrüttete Stimme nicht länger ertragen. Sofort begann sie, nach mir zu treten, ihre Schuhe schienen Metallkappen zu haben. Ich hatte die gräßliche Vorstellung, daß ihr Eisenfüße gewachsen waren. Dann schleuderte ich sie von mir fort auf den Boden des Korridors und floh aus dem Haus.
Es war nun dunkel, außerhalb des Hauses irgendwie dunkler als im Innern; ich stellte fest, daß ich noch Kraft genug hatte, den ganzen Weg nach Hause zu rennen.
Ich verreiste für vierzehn Tage, obwohl es im Grunde das letzte war, was ich wollte. Nach dieser Zeit – außerdem stand das Weihnachtsfest vor der Tür – kehrte ich ins Haus meiner Eltern zurück; ich wollte nicht zulassen, daß Sally meine derzeitigen Lebenspläne durcheinanderbrachte.
Den Winter über warf ich in gewissen zeitlichen Abständen von der Ecke der Sackgasse, in der es stand, verstohlene Blicke nach Sallys Haus, entdeckte aber keine Anzeichen eines Bewohners oder einer Veränderung.
Ich hatte von Miss Garvice erfahren, daß Sally einfach aus dem Gemeindekrankenhaus »verschwunden« war.
»Verschwunden?«
»Lange bevor sie entlassungsreif war – das muß ich wohl nicht eigens erwähnen.«
»Wie ist das passiert?«
»Die Nachtschwester machte ihre Runde und stellte fest, daß das Bett leer war.« Miss Garvice sah mich an, als sei ich eine Kronzeugin. Wären wir in Miß Garvices Dienstzimmer im Krankenhaus gewesen, wäre Serena sicher aufgefordert worden, dafür Sorge zu tragen, daß wir nicht gestört würden.
Sally war noch nicht lange genug wieder da, um in der Stadt viel Aufmerksamkeit zu erregen, und ich stellte fest, daß sie bald niemand mehr erwähnte.
Dann, an einem Tag zwischen Ostern und Pfingsten, stand sie auf einmal vor meiner Haustür.
»Hallo, Mel.«
Wieder war sie es, die das Gespräch begann. Sie war so, wie sie vor dem letzten Herbst immer gewesen war; mit der ihr eigenen seltsamen, unvergänglichen, sorglosen Anmut und ihrem lieblichen, abwesenden Lächeln. Sie trug ein weißes Kleid.
»Sally!« Was hätte man auch sagen
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