0001 - Das Schloß der Dämonen
zwischen den Büschen, wie er aufgetaucht war.
Zamorra zog die Taschenlampe aus dem Gürtel. Er ließ den Lichtkegel wandern, leuchtete die Straße ab, drang in das Buschwerk ein, lauschte immer wieder - doch den Mann mit dem Totengesicht schien der Erdboden verschluckt zu haben. Düster und völlig ausgestorben lag die Landschaft im Mondlicht.
Charles Vareck und der Fremde waren verschwunden wie ein Spuk. Zamorra war sehr nachdenklich, als er den Schloßhof überquerte und in die Bibliothek zurückging. Niemand hatte etwas von dem nächtlichen Zwischenfall mitbekommen. Nirgends war Licht aufgeflammt, das Schloß schlief friedlich wie zuvor.
Zamorra hob das Buch auf, das Vareck nach ihm geschleudert hatte, und drückte die schwere Eichentür hinter sich ins Schloß.
Die Ecken des kostbaren Lederbandes waren eingedrückt, ein paar Kratzer zeichneten sich auf dem dunklen Karmesinrot des Einbandes ab. Zamorra zog sich in einen der Sessel zurück und musterte den Buchrücken. Vier Ziffern. Eine Jahreszahl in verblichener Goldprägung. 1099. Sonst nichts.
Mit gerunzelter Stirn schlug Zamorra das Buch auf, blätterte es flüchtig durch und stieß auf eine Seite, deren obere Ecke umgeknickt worden war.
Eine Zeichnung!
Das kleine, aber detaillierte Abbild eines Amuletts aus ziseliertem Silber. Ein Drudenfuß in der Mitte.
Kreisförmig darum geordnet die zwölf Tierkreiszeichen. Und als äußerer Ring ein schmales Silberband mit Zeichen und Hieroglyphen, die Zamorra nicht entziffern konnte. Seine Augen verengten sich. Er blätterte weiter, ließ den Blick über die engbeschriebenen Seiten gleiten - und dann hatte er die Geschichte des Amuletts gefunden.
Anno Domini 1099 war es Leonardo de Montagne dank göttlicher Gnade vergönnt, mit den edlen Kreuzfahrern Jerusalem einzunehmen und die Heiligen Stätten den Ungläubigen zu entreißen. Dort gründeten sie ein Reich, auf daß die Heiligtümer der Christenheit auf immer erhalten blieben. Der zweite Sohn des Kalifen Achman jedoch hatte eine Frau, die rein war wie ein leuchtender Stern am Firmament und schöner als die aufgehende Sonne des Morgenlandes. Leonardo gefiel es, sie mit sich zu nehmen als Geisel, damit der Friede gesichert sei. Sie war schön, daß er sie nicht zurückgeben wollte, nicht um den Preis von Gold und nicht um den Preis eines Königreichs. Der Kalif aber änderte seinen Sinn und machte ihm ein Amulett zum Geschenk, auf daß er herrsche über die Mächte der Finsternis, über Dämonen und Geister…
Zamorra ließ das Buch sinken. Eine steile Falte stand auf seiner Stirn, und für einen Moment ging sein Blick ins Leere. »… auf daß er herrsche über die Mächte der Finsternis «, wiederholte er murmelnd.
» Über Dämonen und Geister …«
War das die Lösung? Der uralte Fluch, der Unstern, der über dem Geschlecht derer de Montagne stehen sollte? Gab es das wirklich - dieses Amulett, das seinem Besitzer Macht über die Kräfte des Übersinnlichen verlieh?
Noch einmal betrachtete er die Abbildung.
So wie sie auch Charles Vareck vor wenigen Minuten betrachtet haben mußte. Und dabei versuchte er, sich die Ereignisse der vergangenen Stunden genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Vareck war müde gewesen, abgespannt. Zu müde jedenfalls, um mit seinen Verwandten, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, mehr als nur ein paar Worte zu wechseln. Und dann war er in die Bibliothek gegangen, hatte in einem der alten Bücher gelesen, hatte mit einem blindwütigen, völlig sinnlosen Angriff reagiert, als er überrascht wurde. Und draußen war dieser seltsame Fremde aufgetaucht. Hatte er dort auf Vareck gewartet?
Steckten die beiden unter einer Decke?
Um irgend etwas zu stehlen oder… herauszufinden? Irgend etwas vielleicht, das mit dem Tode Louis de Montagnes zusammenhing?
Zamorra schob mit einem tiefen Atemzug den Sessel zurück. Er wußte nicht, was hier gespielt wurde, wußte nicht einmal, ob er es mit normalen Gegnern zu tun hatte oder mit Dingen, die den Horizont des Verstandes, der Naturgesetze überschritten. Aber er war entschlossen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen.
***
Der alte Raffael bemerkte am nächsten Morgen als erster, daß Charles Vareck verschwunden war. Er wirkte reichlich ratlos, als er die anderen davon in Kenntnis setzte.
»Monsieur Vareck hat überhaupt nicht in seinem Zimmer übernachtet«, sagte er. »Auch sein Wagen fehlt. Wenn er nicht seinen Koffer zurückgelassen hätte, müßte man annehmen, er sei wieder
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