0004 - Götterdämmerung
dessen Gunst sich Politiker und Wirtschaftsmagnaten rissen. Jeder würde sich als Ratgeber einen Telepathen wünschen, um die Absichten der Konkurrenten im voraus wissen zu können. Und natürlich würde man anständig zahlen.
Im Nebenappartement wohnt doch Miß Nelson, sagte sich John. Sie ist daheim, wie ich eben sah. Nur eine dünne Wand trennt uns. Gedanken lassen sich nicht durch eine Wand aufhalten. Vielleicht sollte ich versuchen ...
Eine fieberhafte Erregung packte ihn plötzlich. Das heutige Ereignis hatte alle Zweifel beiseite gewischt.
Er konnte, wenn er wollte, Gedanken lesen! Himmel, warum war er nicht schon früher dahintergekommen? Und jetzt konnte er sich selbst beweisen, daß es kein Traum oder gar Zufall war. Er stand auf und ging zur Wand. Miß Nelson führte ein geregeltes Leben. Möglich, daß sie schon zu Bett gegangen war. Sicher las sie noch ein wenig - vielleicht sogar die Zeitung mit den aufregenden Berichten von dem mißglückten Überfall auf die Bank. Dann würde sie jetzt schon wissen, welcher Held neben ihr wohnte.
John hatte nie besonderes Interesse für Miß Nelson gezeigt, aber sie war jung und hübsch, Verkäuferin in irgendeinem Geschäft. Sie waren gute Nachbarn, mehr nicht, obwohl John nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn sie etwas mehr gewesen wären.
Alles war still sonst. John versuchte, sich zu konzentrieren. Er stellte sich das Mädchen vor, sah es förmlich im Bett liegen, glaubte das Gesicht zu erkennen, wie es ihn anblickte - ein wenig bewundernd.
Und dann...
Es durchzuckte John wie ein elektrischer Schlag. Zuerst glaubte er, es sei Einbildung, aber dann verschwanden alle Zweifel. Wieder war es, als kröchen die fremden Gedanken in sein Gehirn und verdrängten die eigenen. Und dann konnte er diese Gedanken nicht nur verstehen, sondern er begann auch, mit den Augen des Mädchens zu sehen. Er sah das Buch, in dem sie las, sah die kleine Nachttischlampe neben dem Bett, sah die Zeilen - und konnte sie lesen.
Für einen Augenblick schloß er entsetzt die Augen, aber die Gedanken blieben. Jetzt legte sie das Buch beiseite, aber sie dachte weiter. Und - wie merkwürdig - sie dachte an ihn, John.
Und - Himmel! Was sie dachte ...! John wurde plötzlich rot wie ein Zehntkläßler, wich vor der Wand zurück und riß die Augen weit auf. Er ließ sich in den nächsten Sessel fallen und schlug die Hände vor das Gesicht. Und dann begann er zu lachen.
Es funktionierte! Es war keine Einbildung! Er konnte die Gedanken anderer Menschen lesen, wenn er sich auf sie konzentrierte. Nun bestand kein Zweifel mehr.
Aber es war wohl besser, niemand würde davon erfahren. Wenigstens vorläufig nicht. Zuerst galt es, eine gewisse Perfektion zu erlangen, ehe er versuchte, Kapital aus seiner Fähigkeit zu schlagen.
Er vergaß völlig die Zeitungsberichte, die zwar von den meisten Menschen nicht so ernst genommen wurden, aber doch von einigen. Nur eines vergaß er nicht: am nächsten Tage Miß Nelson einen Besuch abzustatten.
*
Bei Anne Sloane war das alles ganz anders. Sie wußte seit ihrem 18. Lebensjahr, daß sie nicht das war, was man gemeinhin als normales Mädchen bezeichnete. Ihr Vater, ein bekannter Atomwissenschaftler, der an der Entwicklung der ersten Kernwaffen mitgearbeitet hatte und nun zurückgezogen in Richmond, Virginia, lebte, hatte sie nicht im Ungewissen gelassen. Die Mutter war drei Monate vor der Geburt ihres Kindes bei Versuchen in ein starkes Strahlungsfeld geraten. Zuerst hatten sich keine Folgen gezeigt, aber dann, als Anne geboren wurde, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit Professor Sloanes auf seine Tochter. Erst als sie 8 Jahre alt geworden war, trat die erste Abweichung auf. Anne hatte aus einem starken Wunschgefühl heraus eine Spielzeugeisenbahn in Bewegung gesetzt und fahren lassen, obwohl sie nicht an das Stromnetz angeschlossen war. Nur ihr Wille allein, die Bahn fahren zu sehen, hatte diese in Bewegung gesetzt.
Professor Sloane war zuerst entsetzt gewesen, begriff aber dann, daß der Strahlungseinfluß die Struktur des embryonalen Gehirns verändert haben mußte. Bisher schlummernde Fähigkeiten des menschlichen Geistes waren geweckt und ausgebildet worden.
Anne Sloane war der Telekinese mächtig. Was zuerst eine Ahnung gewesen war, wurde im Laufe der Jahre Gewißheit. Aber erst als sie 18 Jahre alt wurde, klärte der Vater sie auf. Systematisch begann Anne, sich zu beobachten. Sie entdeckte immer neue Variationen der Telekinese und
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