0006 - In den Klauen der Mumie
den Magier fest.
»Ja«, sagte Rush zerknirscht.
»Woher haben Sie sie?« wollte Bill Fleming wissen.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Rush ausweichend.
»Wir haben Zeit«, meinte Zamorra.
Rush drückte verlegen herum.
»Vor einem Jahr, da war ich in Italien. Im Raum von Neapel. Machte da Urlaub. Wie das so geht, wenn man Magier von Beruf ist, kommt man mit Leuten zusammen, die eine Kostprobe meines Könnens haben möchten… Nun ja. Man hört von einem anderen Magier. Man erfährt von spiritistischen Sitzungen. Man geht hin. Man lernt da Leute kennen, unterhält sich, spricht über alle möglichen unheimlichen Dinge. Und plötzlich taucht da ein Angebot auf. Eine Mumie wäre zu kaufen. Soll sich um einen Grafen handeln, der seit unzähligen Jahren tot ist. Ich wollte anfangs nichts davon wissen. Doch dann ließ mir die Sache doch keine Ruhe. Ich meinte, ansehen könnte ich mir den Grafen doch mal. Ich wurde in ein Schloß in der Nähe von Pompeji gebracht. Im Keller lag dann die Mumie. Eingetrocknet. Häßlich. Grauenerregend. In einem steinernen Sarkophag. Für tausend Dollar wäre die Mumie zu haben, sagte man mir. Ich wollte nicht anbeißen. Da fiel mir ein, daß ich zu Hause irgendwo ein steinaltes Buch aufbewahrte, in dem alte Zeremonien geschildert waren. Zaubersprüche standen darin, mit denen man angeblich Tote zum Leben erwecken konnte. Da kam mir die Idee, es mit dieser Mumie mal zu versuchen. Wenn es mir gelang, die Mumie mit diesen Zaubersprüchen zum Leben zu erwecken, wollte ich damit auf die Bühne gehen. Ich versprach mir davon eine wahre Sensation. Ein Magier, der mal ganz was Neues zu bieten hat. Wäre schon etwas gewesen. Ich sah mich schon in Geld schwimmen und gab die tausend Dollar für die eingetrocknete Mumie eigentlich leichten Herzens aus. Nachdem ich den Grafen erworben hatte, brach ich meinen Urlaub ab. Ich konnte es nicht mehr erwarten, die Zaubersprüche an ihm auszuprobieren. Monatelang beschäftigte ich mich mit der Mumie. Claudio Ravazza half mir dabei. Und eines nachts war es dann soweit. Vielleicht deshalb, weil Vollmond war. Vielleicht deshalb, weil ein gewaltiges Gewitter über Philadelphia niederging, wo ich wohnte. Ein Gewitter, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Es muß den Grafen geweckt haben. Claudio und ich trauten unseren Augen nicht, als sich die Mumie plötzlich bewegte. Monatelang hatten alle Zaubersprüche versagt. Und plötzlich wirkte einer. Wir waren verrückt vor Freude. So etwas war vor mir noch niemandem gelungen - ich meine, wenn man von der schriftlichen Überlieferung absieht, die ich in diesem alten Buch gefunden hatte. Das war ja undenkliche Zeiten her. Seither hatte das niemand mehr fertiggebracht. Die Mumie gehorchte all meinen Befehlen. Sagte ich: ›Steh auf!‹, dann stand sie auf. Sagte ich: ›Setz dich!‹, dann setzte sie sich. Da ihr Anblick für das Publikum zu grauenvoll gewesen wäre, habe ich sie bandagiert.«
Richard Rush machte eine Pause. Zamorra glaubte zu sehen, daß der Mann erleichtert war, weil er nun endlich mit jemandem über sein furchtbares Problem sprechen konnte.
Rush nahm sich diesmal seinen Whisky selbst. Und er zitterte auch nicht mehr so heftig.
Nachdem er getrunken hatte, schaute er Zamorra starr in die Augen.
»Ich habe Sie in noch einem Punkt belogen, Professor.«
»In welchem?« fragte Zamorra.
»Ich habe Ihnen von meinen erfolgreichen Auftritten mit der Mumie erzählt…«
»Ja. Und?«
»Es gab bisher noch keinen solchen Auftritt. Es stimmt, daß ich mehrere Angebote aus Europa in der Tasche habe, doch ich mußte immer noch an meiner Nummer arbeiten. Sie war noch nicht ganz fertig. Ich machte mir Sorgen, weil die Mumie plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln begann. Sie tat nicht mehr nur das, was ich von ihr verlangte. Sie machte mehr und mehr das, was sie selbst tun wollte. Ich spürte, wie ich die Kontrolle über den lebenden Toten zu verlieren begann. Heute bin ich der Mumie gegenüber nicht bloß machtlos. Sie will mich sogar umbringen!«
»Sie hat Sie bis zum Parkplatz verfolgt?« fragte Zamorra, sich erhebend.
»Ja.«
»Dann werden wir uns da mal umsehen. Vielleicht ist sie noch da.«
»Sollten wir nicht die Polizei…«, warf Nicole ein.
»Die können wir später immer noch einschalten«, erwiderte Professor Zamorra. »Gehen Sie mit Mr. Fleming voraus, Mr. Rush. Ich habe noch eine Kleinigkeit zu erledigen und komme dann nach.«
Rush erhob sich.
»Okay.«
Bill und der Magier
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