0009 - Der Hexenmeister
Sie noch nie vom Totenkult der Albigenser gehört? Manasse, ihr Anführer, versteht sich darauf, Leichen zum Leben zu erwecken. In bestimmten Nächten nimmt er scheußliche Manipulationen an den Halswirbeln vor. Und genauso tötet er durch seinen Spruch jeden Menschen, der sein Mißfallen erregt. Ihm entkommt niemand. Ich könnte bis an das Ende der Welt fliehen – Manasse würde mich erwischen.«
Armand schüttelte energisch den Kopf.
»Wer sich mit denen da oben eingelassen hat«, flüsterte er, »ist ein für allemal verloren. Da gibt es kein Zurück. Das ist so endgültig wie der Tod. Er spricht nicht zu mir. Ich weiß ganz einfach, was ich zu tun habe. Das ist alles. Und ich gehorche.«
»Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß er Ihnen mitgeteilt hat, Sie sollen mich in diesen feuchten Keller zu einer alten Mumie sperren?« konterte Nicole Duval wütend.
Armand überlegte.
Er legte den Kopf schief und betrachtete das Mädchen mit einem tückischen Grinsen.
»Sie haben recht«, sagte der Wirt schließlich. »Manasse liebt keine halben Sachen. Ich werde Sie nicht einsperren, sondern…«
Blitzschnell hob der Mann seine verstümmelte Rechte. Drohend blinkte der Stahlhaken im Licht der Lampe. Dann fetzte die entsetzliche Waffe durch die Luft.
Nicole wich schreiend aus.
Der Stahlhaken bohrte sich knirschend in das Holz des Lattenverschlages. Die Streben vibrierten, mit einer solchen Wucht hatte Armand zugeschlagen. Die Mumie dahinter verlor den Halt und kippte um. Die alte Frau mit den dämonischen, starren Augen landete auf dem Rücken. Sie schaute Nicole an, schien sich an ihrer Not zu weiden. Dunkel gebeizte Pergamenthaut spannte sich über hohe Backenknochen. Lange, klauenartig gekrümmte Fingernägel deuteten auf das entsetzte Mädchen.
Armand griff erneut an. Er ließ die Lampe einfach fallen.
Nicole Duval rannte um ihr Leben. Sie erreichte die Treppe. Sie war schneller als der schwergewichtige Wirt.
Das Mädchen erreichte das Erdgeschoß. Die Haustür war nicht verschlossen. Der Peugeot! Aber sie hatte keine Zeit, den Schlüssel zu suchen, den Bill Fleming weggeworfen hatte.
Schluchzend gewann Nicole Duval das Freie. Sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Dieser Ort war wie von der Welt abgeschnitten. Aber die Felder waren bestellt. Es mußte doch irgend jemand im Dorf geben, der ihr helfen konnte!
Aufs Geratewohl steuerte Nicole Duval einen Hof an. Er lag am Ende der Streusiedlung, noch hinter dem Gasthof in Richtung auf den Col de la Chutte.
Drohend ragte der bewaldete Berg auf. In seiner Flanke lag wie ein Geschwür die schwarze Narbe der Basilika.
Es war ein heißer Sommertag.
Nicole Duval nahm kaum etwas bewußt wahr. Sie rannte, was ihre Beine hergaben. Sie erreichte den Hof. Das Hauptgebäude war verfallen. Es gab kaum noch eine heile Fensterscheibe. Unter dem Dach nisteten Schwalben. Ein Dutzend Hühner nahmen ein Sandbad neben der Scheune.
Wie auf Kommando blieb Armand am Hoftor stehen, brach die Verfolgung ab, während seine Gefangene wie wild gegen die Tür donnerte und um Hilfe schrie.
Drinnen erklang Hundegebell. Heiser, drohend.
Eine Frauenstimme mahnte das Tier zur Ruhe. Eine Kette klirrte.
Die Tür wurde geöffnet.
»Kommen Sie herein«, bat eine jugendliche Stimme.
»Ich…«, stammelte Nicole Duval.
»Sie brauchen mir nichts zu erklären. Ich weiß alles. Übrigens, mein Name ist Odile Blanche«, lächelte das Mädchen.
Odile Blanche mochte knapp sechzehn Jahre alt sein. Sie hatte feuerrotes Haar und grüne Katzenaugen. Sie trug eine weiße Bluse und Kordhosen. Ihre Füße steckten in Ledersandalen.
»Was ist mit dem Kerl da draußen?« fragte Nicole Duval.
»Er wird Sie nicht belästigen, solange Sie bei mir sind«, erklärte Odile Blanche. »Er hat Angst vor mir. Wußten Sie nicht, daß ich eine Hexe bin? Hat er Ihnen das nicht erzählt? Es ist doch sein Lieblingsthema.«
»Ich weiß gar nichts mehr«, seufzte Nicole Duval, die das Haus betreten hatte, und ließ sich auf den erstbesten Stuhl fallen. Ihre Knie zitterten von der Anstrengung der Hetzjagd. Sie konnte noch nicht glauben, daß sie der mörderischen Stahlprothese des Wirtes entkommen war.
»Was haben Sie jetzt vor?« fragte Odile Blanche sachlich. »Ich nehme an, Sie wollen hier nicht alt werden. Sie sind aus der Stadt. Sie halten es doch keine zwei Tage in Pelote aus.«
»Ich bleibe, bis ich Bill Fleming gerettet habe. Mein Begleiter – er ist zur Kirche hinaufgegangen«, stieß
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