0009 - Im Würgegriff der roten Masken
lieber einen Mann aus dem Dorf gesehen, aber Gloria ließ sich nicht durch Geld und gute Worte einschüchtern.
Sie liebte ihren Tom.
Gegen achtzehn Uhr schloß Tom Harris seine Praxis. Er ließ die vergangenen Stunden vor seinem geistigen Auge Revue passieren und machte sich kopfschüttelnd daran, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Sechs Patienten waren zu ihm gekommen. Wenn das nicht besser wurde, konnte er den Laden dichtmachen. Eine Schwester einzustellen, dazu reichte das Einkommen sowieso nicht.
Tom gönnte sich eine Zigarette. Ich hätte doch lieber Tierarzt werden sollen, dachte er und blies den blaugrauen Rauch gegen die Fensterscheibe.
Er sah gut aus, der junge Arzt. Ziemlich groß, graue Augen und dunkelblondes Haar. Eine Strähne fiel ihm regelmäßig in die Stirn und gab ihm ein leicht verwegenes Aussehen.
Er blickte auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten, dann mußte Gloria erscheinen. Sie arbeitete auf dem Büro des Bürgermeisteramtes, war dort die gute Seele und kümmerte sich um alle Belange, die in einem kleinen Dorf anfielen.
Längst war es draußen dunkel geworden. Die Kälte drückte den Nebel dem Boden entgegen. Er schien über den Moorwiesen wie eine schmutziggraue Mauer zu stehen. Nur vereinzelt sah Tom vom Fenster aus Lichter schimmern. Sein Haus lag ziemlich am Ende des Dorfes. Die Gemeinde hatte es ihm für billiges Geld zur Verfügung gestellt. Es besaß zwei Etagen. Unten befand sich die Praxis und im ersten Stock hatte sich Tom Harris seine Wohnung eingerichtet.
Drei kleine Zimmer reichten ihm völlig. Er hatte sie mit Erbstücken seiner Mutter möbliert.
Eine Heizung gab es weder in der Praxis noch in der Wohnung. Tom feuerte mit Kohlen. In der Praxis stand ein alter Kanonenofen. Der war, was die Heizleistung anbetraf, besser als manch supermoderne Zentralheizung.
Ein Traktor rumpelte über die Straße. Seine Scheinwerfer wirkten in der Nebelsuppe wie verwaschene auslaufende Flecken.
Dann huschte schattenhaft eine Gestalt durch den kleinen Vorgarten. Tom Harris lächelte.
Und schon hörte er das Summen der Klingel. Rasch lief der junge Arzt zur Tür und öffnete.
Gloria fiel ihm in die Arme. »Ist das kalt«, sagte sie zur Begrüßung und drückte Tom ihre kühlen Lippen auf den Mund.
Der Arzt schob die Tür zu. »Komm erst mal rein«, sagte er. »Ich mache uns einen Grog. Der wärmt. Und danach habe ich etwas Besonderes für uns. Eiswein. Hat mir ein Bekannter aus Germany geschickt. Eine Spezialität, kann ich dir sagen.«
Gloria schlüpfte aus ihrem Mantel. Darunter trug sie ein dunkelrotes zweiteiliges Wollkleid. Gloria hatte weizenblondes Haar, das an den Seiten zu Korkenzieherlocken gedreht worden war. Ihr Gesicht war hübsch. Die grünen Augen standen leicht schräg. Sie erinnerten Tom Harris immer an die einer Katze. Die vollen Lippen luden zum Küssen ein, und die Backenknochen standen etwas hoch. Glorias Wangen begannen zu glühen, als die Haut die Wärme spürte.
»Laß uns nach oben gehen«, sagte Tom.
»Nein.« Gloria blieb an der Tür zur Praxis stehen und schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Weil wir gleich noch einmal hinausgehen.«
»Das hatte ich aber nicht vor, Darling.«
»Aber ich!«
»Und warum?« Tom ging auf seine Freundin zu und legte die Hand auf ihre Taille. Gemeinsam betraten sie die Praxis. »Jetzt sag mir, warum du noch einmal bei diesem Hundewetter raus willst.«
Gloria Dawson ließ sich auf einen Stuhl fallen und rieb die Hände gegeneinander. »Ich will dir etwas zeigen.«
»Und was, bitte sehr?«
»Gräber.«
Der junge Arzt mußte wohl ein ziemlich verdutztes Gesicht gemacht haben, denn Gloria begann schallend zu lachen. Dann wurde sie jedoch wieder ernst. »Kinder haben davon berichtet. Im Sumpf sind vier aufgebrochene Gräber gefunden worden. Wenigstens sollen sie so aussehen.«
»Aber du selbst hast dich nicht davon überzeugt.«
»Nein.«
»Hm.« Tom rieb sein Kinn. Es schabte, denn der Bart war seit dem Morgen gewachsen. »Glaubst du das wirklich, was die Kinder sagen?«
Gloria nickte. »Ja. Und zwar sind die Gräber auf dem Teufelshügel. Ich habe dir ja von der alten Spukgeschichte berichtet.«
Tom Harris verdrehte in komischer Verzweiflung die Augen. »Sag nur, du glaubst diese Geschichte. Ich habe dir doch schon oft gesagt, daß das Quatsch ist. Du machst dich noch lächerlich mit deinem verdammten Geisterglauben.«
Gloria sprang auf. »Du hättest die beiden Kinder sehen sollen. Völlig verstört waren sie. Und
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