001 - Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus
die Schatten. Sofort reiße ich
die Läden vor, drücke das Fenster zu und schließe mich ein. Aber ich kann sie
sehen, Kommissar ... durch die Ritzen ...«
»Wie sehen sie denn aus, Ihre Vampire, Taillant?«, wollte Sarget wissen. Er
saß so im Bett, dass er die offene Balkontür im Rücken hatte. So bemerkte er
nicht, wie der riesige Schatten durch die Luft glitt und sich dem Balkon
näherte.
Das heftige Atmen seines Gesprächspartners klang in Sargets Ohren. »Wie
Fledermäuse, Kommissar ... wie richtige, riesige Fledermäuse! Wie sollen sie
denn sonst aussehen? Sie haben keine Vorstellung von der Größe, Kommissar ...
sie sind mannsgroß ... es sind Vampire ... Kommissar, und ...«
Im selben Augenblick überstürzten sich die Dinge.
Pierre Sarget vernahm die Bewegung neben sich.
Seine Frau wurde wach. »Muss das denn sein?«, fragte sie verschlafen und
vorwurfsvoll. »Diese langen Telefonate, mitten in der Nacht ...«
Sie drehte den Kopf herum und verstummte erst. Dann folgte ein gellender
Aufschrei.
Der Vorhang, der die offenstehende Balkontür verbarg, riss auf. Wie von
einem heftigen Windstoß wurde ein großes, schwarzes Tier ins Zimmer gewirbelt.
Sarget ließ den Hörer fallen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er,
dass sich das unheimliche Tier auf seine Frau stürzen wolle.
Dann war der Schatten direkt vor ihm.
Das Ungeheuer hatte es auf ihn abgesehen!
Trotz der Schnelligkeit, in der die Ereignisse abliefen, war deutlich zu
erkennen, dass sich das Tier sein Opfer aussuchte. Sarget versäumte keine
Sekunde, warf sich auf die Seite, riss die Schublade seines Nachttisches auf
und hielt im nächsten Moment seinen Dienstrevolver in der Hand. Der Kommissar
legte auf das Tier an und drückte ab.
Zwei, drei Schüsse hallten durch das Schlafzimmer.
Die Fledermaus wurde wie von der Faust eines Titanen zurückgeworfen. Zwei
Einschusslöcher klafften in ihrer der Brust, eines im Kopf. Das Blut spritzte
über die Bettdecke. Der Vampir flatterte nochmals heftig, ein Wimmern kam aus
dem weit geöffneten Maul, in dem sich die spitzen Schneidezähne und dolchartigen
Eckzähne scharf abzeichneten.
Madame Sarget schluchzte leise vor sich hin. Sie hatte die Decke vor die
Augen gezogen, um nicht zu sehen, was geschah. Der Kommissar beruhigte seine
Frau. Dann betrachtete er den Vampir, der auf den blutverschmierten Bettvorleger
gefallen war.
Pierre Sarget schluckte. Seine Rechte zitterte, als er den Schweiß von der
Stirn wischte. Es stimmte also! Diese blödsinnigen, mysteriösen Berichte von
den riesigen Vampiren waren nicht erfunden.
Nun hatte er es selbst gesehen. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Alle
Fakten, die man gesammelt hatte, gipfelten in einer Erkenntnis: die Menschen,
die behaupteten, angefallen worden zu sein – hatten alle Blutgruppe A.
Nur eine einzige Ausnahme gab es bisher. Der Mord an Marc Lepoir! Und jetzt
gab es plötzlich eine zweite Ausnahme: ihn, Sarget! Er nämlich hatte die
Blutgruppe B.
Der Kommissar wehrte sich gegen die Erkenntnis, die sich machtvoll Zugang
zu seinem Bewusstsein verschaffte. Das Tier war auf ihn angesetzt worden, es
hatte den Auftrag gehabt ... aber gab es denn so etwas überhaupt?
Sargets Mund wurde hart. Er untersuchte die tote Fledermaus. Er hatte mal
gehört, dass sich Fledermäuse nach einer Art Radar richteten, nach
Ultraschallimpulsen.
Mit Vernunft und Überlegung ging der Kommissar an die Sache heran, jede
emotionale Regung zur Seite schiebend.
Er fand Gewissheit.
In Form einer münzgroßen Kapsel, die auf dem Hinterkopf der toten
Fledermaus angebracht war. Er löste den schimmernden Gegenstand ab, betrachtete
ihn eingehend und beschloss, ihn gleich morgen früh durch das Labor untersuchen
zu lassen.
Von einer Sekunde zur anderen hatte sich nach dem grauenhaften Vorfall sein
Denken und seine Einstellung grundlegend gewandelt.
Pierre Sarget sah es als erwiesen an, dass es die Untiere wirklich gab,
aber er begriff nicht, woher diese kamen. Es war ihm jedoch klar, dass er sich
nicht mehr damit begnügen würde, einen Bericht nach Paris zu schicken. Von
jetzt an wollte er sich selbst um einige Dinge kümmern, die ihm plötzlich einer
Nachforschung wert erschienen.
Schließlich ging es dabei auch um sein eigenes Leben.
Er sprach eingehend mit seiner Frau, schleifte die tote Fledermaus auf den
Balkon und schloss dann sämtliche Türen und Fenster im Haus.
Da erst fiel sein Blick auf den Hörer, der noch immer neben der Gabel lag.
Das
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