001 - Im Zeichen des Bösen
einstürmten, doch der Gedanke an seine Frau trieb ihn voran. Irgendwie gelangte er an das Ende der Treppe. Vor sich sah er den breiten Korridor, der vom fahlen Mondlicht erhellt wurde, aber nur für wenige Sekunden war sein Blick ungetrübt, dann wurde es wieder schwarz um ihn. Er tastete sich in jene Richtung vor, in der er Lilians Zimmer vermutete. Als sich die Schwärze wieder für den Bruchteil einer Sekunde verflüchtigte, sah er, daß er sich nur noch wenige Schritte von ihrer Tür entfernt befand. Er nahm alle Kraft zusammen und stürzte nach vorn, prallte gegen den Türstock und taumelte zurück. Vor seinen Augen tanzten Kreise, und wie durch einen Schleier hindurch sah er eine hoch aufragende schlanke Gestalt, die sich gerade über das Bett beugte, in dem Lilian schlief.
Dorian stieß einen wütenden, haßerfüllten Schrei aus und stürmte ins Zimmer. Die Gestalt am Bett erstarrte mitten in der Bewegung und wandte sich ihm zu. Im Schein des Mondlichts, das durch das Fenster hereinfiel, sah er einen länglichen Schädel mit spitzem Kinn.
Die Augen lagen so tief in den Höhlen, daß sie überschattet wurden und nicht zu sehen waren. Jetzt riß das unmenschliche Geschöpf das Maul auf und gab einen schaurigen Laut von sich. Dabei konnte Dorian die beiden überlangen Eckzähne sehen, die aus dem Oberkiefer nach unten ragten.
Der Vampir kam mit seinen knochigen Krallenhänden auf Dorian zu. Dieser ergriff blitzschnell einen Stuhl, holte weit aus und ließ ihn auf den Blutsauger herabsausen. Der Stuhl zerbarst, und der Vampir ging zu Boden. Aber er raffte sich sofort wieder auf, um sich erneut auf den Angreifer zu stürzen. Der Blutgeruch machte ihn rasend.
Dorian hatte mittlerweile zwei der abgesplitterten Stuhlbeine ergriffen. Er überkreuzte sie und hielt sie dem Blutsauger entgegen.
Als der Vampir das Kreuz sah, schrie er auf und wandte sich angewidert ab. Rückwärts ging er auf einen Kamin in der Wand zu, dessen Klappe sich plötzlich wie von Geisterhand bewegt öffnete. Der Blutsauger kroch in die Öffnung und war gleich darauf in einem Geheimgang verschwunden, der sich in der Rückwand des Kamins aufgetan hatte.
Dorian warf die beiden Stuhlbeine zu Boden und beugte sich über Lilian. Ihr Nachthemd war vorn zerrissen, so daß ihre kleinen Brüste freilagen. Erleichtert atmete Dorian auf, als er bei einer raschen Untersuchung nirgendwo Bißwunden entdecken konnte. Er war gerade noch im letzten Augenblick gekommen.
»Lilian!« rief er und schlug ihr mit den Handflächen gegen die Wangen, zuerst gefühlvoll, dann immer stärker, aber er bekam sie nicht wach. Sie befand sich in einem hypnotischen Schlaf. Ohne lange zu überlegen, nahm er sie auf die Arme und lief mit ihr zur Tür.
Doch kaum hatte er den Korridor betreten, als er die unheimliche Meute die Treppe hochkommen sah. An ihrer Spitze befand sich Bruno Guozzi, der bullige Sizilianer mit dem Totenkopf. Sie stimmten ein schauerliches Geheul an.
Dorian blieb keine andere Wahl, als ins Zimmer zurückzukehren und die Tür von innen zu verriegeln. Aber damit konnte er sich nur eine kurze Atempause verschaffen, denn schon hatten die Dämonen die Tür erreicht und hämmerten dagegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das morsche Holz unter ihrem Ansturm bersten würde.
Wenn er Lilian nicht tragen müßte, hätte er versucht, durch das Fenster zu entkommen. Er hatte bemerkt, daß entlang der Wand ein breiter Sims verlief, doch mit Lilian auf den Armen schied dieser Fluchtweg aus. So blieb ihm nur eine einzige Möglichkeit: Er mußte in den Geheimgang, durch den der Vampir geflüchtet war.
Es war nicht leicht für Dorian, mit seiner Last durch die schmale Öffnung in der Rückwand des Kamins zu kriechen. Er mußte zunächst Lilian hindurchschieben, dann erst konnte er selbst folgen.
Der Geheimgang war höchstens einen Meter breit, die Decke dafür so hoch, daß er sie nicht erreichen konnte, selbst wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte. Er stemmte sich gegen den tonnenschweren Quader, und zu seiner größten Verwunderung schwang dieser leicht und fast lautlos zu. Das war ein untrügliches Zeichen, daß dieser Geheimgang des öfteren benutzt wurde. Wahrscheinlich stellte die Gräfin dieses Zimmer den Fremden zur Verfügung, die sich hierher verirrten und um ein Nachtquartier baten. Und wenn sie dann schliefen, kamen die Vampire durch den Geheimgang und ließen ihre ahnungslosen Opfer zur Ader.
Dorian verfolgte diese Überlegungen nicht weiter.
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