001 - Im Zeichen des Bösen
Er konnte sich jetzt nicht mit dem Schicksal jener Namenlosen beschäftigen, die dieses Schloß betreten hatten und spurlos verschwunden waren. Er mußte an sich selbst denken. Es kostete ihn keine Mühe, sich Lilian auf die Schulter zu laden. Er spürte ihr Gewicht kaum. Während er sich seinen Weg durch die Dunkelheit ertastete, mußte er an die Worte der Gräfin denken: »Eure Brüder in der Ahnengruft erheben sich aus ihren Gräbern und lassen sich von ihrem untrüglichen Instinkt zur Quelle führen, aus der unverdünntes Menschenblut sprudelt!«
Es mußte also mehr als nur diesen einen Vampir geben, der Lilian überfallen hatte. Wenn nun dieser Geheimgang geradewegs in die Familiengruft derer von Lethian führte? Dann würde er den Vampiren direkt in die Arme laufen und wäre verloren. Aber daran wollte er noch nicht denken. Er mußte dieses Risiko eingehen, hatte keine andere Wahl.
Ein Modergeruch schlug ihm entgegen, der ihm den Atem raubte.
Die Wände waren trocken, und bei jedem seiner vorsichtigen Schritte wurde Staub aufgewirbelt. Dorian wußte nicht mehr, wie lange er sich durch den engen Geheimgang bewegt hatte, als sein Fuß plötzlich ins Leere trat. Vor ihm waren Stufen, der Gang führte in die Tiefe. Vorsichtig stieg er von einer Stufe auf die nächste hinunter. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen, und von nirgends fiel ein Lichtschein in den Geheimgang. Er hatte bereits dreiundsiebzig Stufen gezählt, die in schnurgerader Richtung in die Tiefe führten, und noch hatte er nicht das Ende der Treppe erreicht. Die Wände waren jetzt feucht, die Stufen glitschig. Er mußte höllisch aufpassen, daß er nicht ausrutschte.
Nach der achtundachtzigsten Stufe spürte er plötzlich ebenen Boden unter den Füßen. Drei Meter weiter stieß er gegen ein Hindernis. Seine Hand ertastete eine mit Eisen beschlagene Tür und fand die große, eiserne Klinke. Er drückte sie nieder, und die Tür glitt langsam auf. Auch dahinter herrschte absolute Dunkelheit, aber das Echo seiner Schritte verriet ihm, daß er einen größeren Raum betreten hatte. Irgendwo tropfte Wasser. Und jemand atmete. Er hörte ganz deutlich den rasselnden Atem eines Lebewesens.
Dorian trat aus dem Luftzug und lehnte sich gegen die Wand. Die Nässe drang durch sein Sakko und vermischte sich mit dem Schweiß auf seinem Rücken. Ihn fröstelte, aber mit der Wand im Rücken fühlte er sich sicherer; so konnte er nur von vorn angegriffen werden.
Langsam und vorsichtig, jedes unnötige Geräusch vermeidend, ließ er Lilian von seiner Schulter gleiten und bettete sie auf den Boden. Dann stand er sprungbereit da. Seine Hände glitten in die Taschen des Sakkos, seine Rechte fand das Gasfeuerzeug. Er drehte das kleine Rädchen bis zum Anschlag auf, hielt das Feuerzeug weit von sich ab und ließ es aufflammen. Eine mehr als fingerlange Flamme schoß hervor und erhellte den Raum.
Er befand sich in einer Folterkammer! Im flackernden Lichtschein erkannte er Streckapparate, Knochenbrecher, ein übermannsgroßes Rad, und an den Wänden hingen unzählige weitere Folterwerkzeuge. Gleich links von ihm stand eine Eiserne Jungfrau, deren Inneres mit rostigen, spitzen Stacheln versehen war. Da löste sich plötzlich ein Schatten aus dem Dunkel. Der Vampir!
Dorian lief ihm entgegen, die Flamme des Feuerzeugs auf ihn gerichtet. Der Vampir schrie auf und hielt die Hände schützend vor das Gesicht. Dabei fing sein Umhang Feuer. Während der Vampir sich verzweifelt bemühte, die Flammen zu ersticken, setzte Dorian seine Kleidung an anderen Stellen in Brand. Der Blutsauger raste, schrie vor Schmerz und Wut. Es gelang ihm, seinen lichterloh brennenden Umhang abzustreifen, aber inzwischen standen schon seine Hosen in Flammen. Er stampfte mit den Beinen auf und heulte schauerlich.
Dorian verhinderte durch geschickte Manöver, daß der Vampir nach links oder rechts ausbrechen konnte. So taumelte der Blutsauger zurück und kam der Eisernen Jungfrau immer näher. Als er genau vor ihr stand, gab Dorian ihm einen Tritt in den Unterleib, so daß er in die mit Stacheln versehene Holzform stolperte. Im selben Moment sprang Dorian vor und klappte das Vorderteil zu.
Ein schrecklicher Schmerzensschrei ertönte, als sich die Stacheln von allen Seiten in den Körper des Vampirs bohrten. Aber Dorian wußte, daß der Vampir so nicht zu töten war. Man mußte sein Herz durchbohren, um ihn für alle Zeiten zu vernichten. Deshalb öffnete und schloß er die dornenbesetzte Klappe immer
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