001 - Vampire unter uns
Sein Gesicht war ungewöhnlich bleich, aber ich maß dem keine Bedeutung bei. Auch nicht der Tatsache, dass er beim Sprechen kaum den Mund öffnete.
»Was wollen Sie wissen, Herr Mertens?« fragte er.
»Was Sie auf dem Friedhof von Eibenburg gefunden haben in jener Nacht, als Sie mich anriefen«, sagte ich rasch, denn das war die Frage, die mich seit Hammerstocks Verschwinden am meisten beschäftigt hatte.
»Die Toten«, erklärte Hammerstock. Ich sah, dass er seine Hände tief in den Taschen des Mantels vergraben hatte. Seine Augen musterten mich kalt.
Ich bemerkte es voller Unbehagen. Was war mit Hammerstock geschehen?
»Die Toten?« wiederholte ich.
»Sie waren ungeduldig«, fuhr er fort.
»Die Toten?« wiederholte ich erneut, verständnislos. Irgendetwas an ihm erschien mir seltsam, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich erkannte nicht, was es war.
»Ich folgte Willie Martin, nachdem er aus Ihrem Fenster gesprungen war.«
»Sie folgten …«, begann Martha erstickt und brach hilflos ab.
»Da wusste ich natürlich noch nicht, dass es Willie Martin war.
Aber ich sah es, als ich schließlich an seinem Grab stand.«
Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Nackenhaare sträubten.
»Ist bei Ihnen – auch wirklich – alles richtig …?« stieß ich hervor.
Er nickte mühsam, so als fiele ihm die Bewegung schwer.
»Ich muss gehen«, sagte er. »Wir wollen alle leben.« Er wandte sich grußlos um und schritt steif zur Tür. Dort blickte er noch einmal zurück. »Willie Martin wird wiederkommen.
Wir werden alle wiederkommen!«
Während wir ihn erstarrt anblickten, nahm er eine Hand aus der Tasche und griff nach der Türklinke. Die Hand war weiß und mager. Dann verließ er die Wohnung.
»Herr Hammerstock!«
Ich eilte zur Tür und riss sie auf. Das Stiegenhaus war dunkel.
Ich knipste das Licht an.
»Herr Hammerstock?«
Kein Laut. Kein Geräusch von Schritten.
Ich blickte zum Lift. Er stand im achten Stock. Den konnte er nicht benutzt haben.
Ich wartete, bis das Licht verlöschte, dann trat ich zurück in die Wohnung und lehnte mich an die Tür. Er ist verrückt, dachte ich.
Martha sah mich wortlos an. »Er ist verrückt«, sagte ich leise.
»Etwas muss da draußen mit ihm geschehen sein.«
Aber jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Wir mussten zum Bahnhof.
Im Taxi hielt ich Marthas Hände fest in den meinen, während meine Gedanken nicht von dem Detektiv loskamen. Mir ging nicht so sehr das, was er gesagt hatte, durch den Kopf, sondern etwas an ihm …
Im Zug endlich wusste ich es: Hammerstock hatte nicht geatmet!
Ich behielt diese Entdeckung für mich, umso mehr, als sie mir bald allzu phantastisch erschien. Wir verbrachten ein paar erholsame Tage auf dem Bauernhof, in dessen geruhsamer Atmosphäre wir unsere bedrückenden Gedanken bald vergaßen. Der Psychiater schien recht zu behalten. Wir fühlten uns frei vom Alptraum der letzten Tage. Selbst das Erlebnis mit Hammerstock verblasste. Am ersten Tag versuchte ich ein paar Mal, Witters anzurufen, um ihm meine Eindrücke vom Besuch seines Chefs mitzuteilen. Aber es klappte nicht mit der Vermittlung, und schließlich gab ich es auf. Es erschien mir nicht mehr wichtig.
Und dann noch dieser unvergleichliche Höhepunkt am Tag vor unserer Abreise, als Martha mir mit einem unnachahmlichen Lächeln auf den Lippen gestand, sie glaube, sie sei schwanger. Auch die vertraute Umwelt zu Hause änderte nichts an unserer Hochstimmung.
Der Alptraum schien endgültig besiegt.
Beide waren wir ganz sicher, dass uns nur unsere Nerven einen Streich gespielt hatten, und so war der erste Tag zu Hause wie eine Fortsetzung des Urlaubs und des Glücks.
Am Tag darauf, einem Mittwoch, erschien ich wieder im Büro – ausgeglichener denn je. Ich unterrichtete auch den Psychiater. Er beglückwünschte mich zum guten Verlauf der Dinge, und ich beglückwünschte ihn zu seiner guten Diagnose.
Dennoch mahnte er zur Vorsicht und riet mir, nicht zu sehr davon überzeugt zu sein, dass nun alles im rechten Lot sei.
Nervöse Störungen seien im Allgemeinen nicht von heute auf morgen heilbar. Ich sollte deshalb bei einem Rückfall nicht den Kopf verlieren, sondern sofort zu ihm kommen.
Ich versprach es.
An diesem Abend beschlossen wir, nicht zu Hause zu bleiben.
Vielleicht aus einer unbewussten Angst vor dem Rückfall, vor dem der Doktor gewarnt hatte, vielleicht aber auch nur aus dem Wunsch heraus, unsere Abende ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten
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