0013 - Die Knochengrube
Fernglas ab. Plötzlich straffte sie ihr Körper. »Bill, ich sehe was. Etwas sehr Schnittiges, Schneeweißes.«
***
Professor Zamorra öffnete die Augen. Zunächst fiel es ihm schwer, das Erinnerungsvermögen in Funktion zu setzen und zu rekapitulieren, was geschehen war. Seine Gedanken wurden von dem Anblick eines grauenvollen Totenschädels gehemmt.
Die leeren Augenhöhlen des Schädels schienen ihn anzustarren, die lückenhaften Zahnreihen grinsten schadenfroh. Zamorra fiel auf, daß das bleichende Knochengebilde über ein gebrochenes Nasenbein verfügte, daß auch der Unterkiefer beschädigt war – er mußte sich zurückziehen, um einen größeren Blickwinkel zu bekommen.
Bei seinem Erwachen hatte sich der Schädel ungefähr zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt befunden.
Zamorra erstarrte.
Zu dem Totenkopf gehörte ein vollständiges, guterhaltenes Skelett. Es lag eigenartig verrenkt vor ihm. Aber nicht das war es, was den Professor zu einem fassungslos geflüsterten »mein Gott« veranlaßte.
Das Skelett machte nur einen Teil der Ansammlung von Gebeinen aus, auf denen er lag. Ja, unter ihm, neben ihm, bis zu den meterweit entfernten Erdwänden war der Boden mit Knochen bedeckt, die sich bei jeder Bewegung Zamorras klappernd bewegten. Es waren nicht nur menschliche, sondern auch Tierskelette, aber das änderte nichts an ihrer Scheußlichkeit und ihrem Gestank.
Er schaute nach oben.
Über ihm zeichnete sich eine rechteckige Öffnung ab. Sie gab einen Teil des Himmels frei, der bereits von den Strahlen der Morgensonne ausgefüllt war und das Gesicht des Mondes nur noch als schemenhaftes Etwas wiedergab.
Zamorra befand sich in einem großen Erdloch.
In einer Knochengrube!
Langsam drehte er sich um. Rosa und Micaela Saldana lagen hinter ihm. Micaela war so hingelegt worden, daß ihr Kopf und der Oberkörper an der einen Grubenwand emporragten.
Die Anwesenheit der Frauen enthob Zamorra seiner letzten Zweifel. Er lebte, war nicht im Jenseits gelandet, konnte sich bewegen – wenn auch nur im Bereich dieser wenigen Quadratmeter. Er kroch zu den Schwestern hinüber. Nachdem er sie flüchtig untersucht hatte, fühlte er sich wesentlich ruhiger. Sie waren nicht tot. Rosa und Micaela hatten nicht einmal größere Verletzungen davongetragen.
Nur ihre Kleider waren zerrissen. Micaelas wohlgeformte Beine schimmerten im Sonnenlicht. Der Professor hatte einen Blick auf Rosas Brustausschnitt frei, den er unter anderen Verhältnissen sicherlich genossen hätte. Jetzt aber wandte er sich ab.
Er richtete sich auf.
In stehender Haltung spürte er den abscheulichen Fäulnisgestank etwas weniger in der Nase. Aber die Öffnung der Grube lag immer noch ungefähr zwei Meter über seinem Kopf. Keine Aussicht, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Die Erdwände waren lehmig, glatt und schlüpfrig. Und sie lagen zu weit auseinander, um ihm zu erlauben, mit gespreizten Beinen wie ein Grubenarbeiter nach oben zu klettern.
Wo waren sie?
Er konnte es beim besten Willen nicht erkennen. Es erschien ihm auch nicht sonderlich wichtig. Beunruhigend war nur eine Überlegung: Die Geistermatrosen Raspanis hatten sie in die Grube geworfen. Gewiß hielten sie sich in der Nähe auf, bereit, sich bei dem ersten Laut, den sie vernahmen, auf Zamorra und die Saldana-Schwestern zu stürzen. Sobald Rosa oder Micaela aus ihrer Ohnmacht erwachten, war es soweit. Auch Rosa würde bei dem Anblick der Skelette ihre Nerven nicht länger unter Kontrolle halten können und schreien.
Dann würden sie kommen, die Knochenmänner. Sie warteten nur darauf, ein Gemetzel mit ihren Säbeln anzurichten.
Zamorra preßte die Finger gegen die Stirn. Er massierte seine Kopfhaut. Dadurch erreichte er, daß seine Kopfschmerzen etwas nachließen. Aber eine Antwort auf seine quälende Frage fand er nicht.
Wie sollten sie sich retten?
Er nahm eine Bewegung hinter sich wahr. Rasch wandte er den Kopf.
Rosa stützte sich auf die Unterarme und schlug die Augen auf. Zunächst stöhnte sie. Aber dann weiteten sich ihre Augen, sie riß die Arme hoch und stieß einen markerschütternden Laut aus.
Zamorra kniete sich neben sie. »Sie müssen ruhig bleiben, Rosa. Versuchen Sie, sich an die Skelette zu gewöhnen, bis Sie ihnen keine Beachtung mehr schenken. Ich möchte, daß Sie sich um Micaela kümmern. Um sie habe ich am meisten Angst…«
»Was – was sind das für Knochen, Professor?«
»Sie gehören Menschen und Tieren, die zu sehr unterschiedlichen
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