0018 - Die Hexenschwestern
weiterleben. Zieh deinen Purpurmantel aus, Sultan. Du brauchst ihn nicht mehr.«
Noch stand Kamal Haddur unbeweglich.
Es kam erst Leben in ihn, als Clea ihm den Purpurmantel, das Zeichen seiner Sultanwürde, vom Leib riß.
Da wich er einen Schritt zurück.
Aber die vier Mädchen setzten ihm nach. Jetzt waren sie es, die den Mann auf seinen eigenen Diwan zwangen. Mit kräftigen Fingern gruben sie sich vor an seine Brust, an sein Herz, und rissen ihm die drei seidenen Hemden herunter, die er immer übereinander trug.
Da wußte er, was aus den Mädchen geworden war. Er wußte es aus den Berichten alter Menschen, die erlebt hatten, was geschehen konnte, wenn man die Ehre einer Griechentochter raubt.
Er wußte, daß seine Gier und der Mord an ihrem Vater sie zu Hexen gemacht hatte, die mit übermenschlichen Kräften ausgestattet wurden, sobald man ihnen Unrecht tat.
Die Mädchen waren blutsaugende Hexen geworden.
Die Lamias! dachte Kamal Haddur. Die Lamias, die blutgierigen Hexen waren gekommen!
Dann versank er in eine lange und tiefe Ohnmacht.
Niemand hat je wieder von ihm gehört.
***
»Du meinst gesehen«, sagte der Polizeileutnant Achmud Haddur, als der junge Beamte mit seiner Erzählung zu Ende war.
»Wie?« fragte der verständnislos zurück. In dem Raum herrschte sonst Beklemmung und tiefes Schweigen. Besonders die beiden Frauen saßen zusammengekauert auf einer Bank und brachten kein Wort hervor.
»Du sagtest soeben, daß niemand mehr von ihm gehört hat. Aber die Geschichte um den Sultan, meinen Vorfahr, hat sich bis heute gehalten. Sonst hätten wir sie nicht heute von dir hören können.«
»Natürlich, Leutnant«, verbesserte sich der junge Beamte. »Es hat ihn nie wieder jemand gesehen. Der Sultan blieb wie vom Erdboden verschwunden. Nur an der Stelle, wo die Lamias ihn überfallen hatten, fanden die Diener Kamal Haddurs Blutspuren.«
»Aber nirgendwo eine Leiche?«
»Nirgends«, gab der junge Mann zur Antwort. »Er ist nie wieder gesehen worden. Weder tot noch lebendig. Das bedeutet also, daß die Lamias tatsächlich über geheimnisvolle Kräfte verfügen. Sie selbst sind in der Umgebung nie gesehen worden. Aber sie haben doch auf dem Sims vor dem Fenster des Palastes gestanden!«
»Woher will man das wissen?« fragte der Leutnant. Aber seine Stimme klang nicht gerade zuversichtlich. Er hatte die Frage mehr aus Verlegenheit gestellt. Oder weil er Zeit gewinnen wollte. Seine Gedanken jagten sich wie wild in seinem Kopf.
»Die Marktfrau hat dem Sohn des Sultans damals mitgeteilt, was geschehen ist. Man fand sie drei Tage später völlig verstört. Es wird erzählt, daß sie nahe daran war, den Verstand zu verlieren.«
»Das war damals«, entgegnete Achmud Haddur. »Das war vor genau dreihundert Jahren. Wir sind in der Gegenwart.«
»Das schon, Leutnant«, meinte der junge Beamte. »Aber bedenken Sie eines: Die Zeit stimmt genau. Die Hexen haben von dreihundert Jahren gesprochen. Und diese dreihundert Jahre sind um. Und wo finden wir Spuren? Bis jetzt kennen wir nur drei Fälle. Drei Gräber. Und in jedem Grab lag ein Mann, der auf den Namen Haddur hörte. Das gibt mir zu denken, Leutnant.«
»Du hast recht«, sagte Haddur zu dem blutjungen Burschen.
»Und wie soll man an diese Lamias herankommen, wenn sie sich anscheinend in Luft auflösen können? Wenn Sie die Kraft haben, Menschen verschwinden zu lassen? Gleichgültig, ob es sich um Tote oder Lebendige handelt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Leutnant verzweifelt. »Ich schlage vor, daß wir erst einmal schlafen. Einer von euch begleitet die armen Frauen nach Hause. Es ist spät geworden.«
Er zeigte auf drei seiner Männer. »Wir treffen uns morgen bei Tagesanbruch am Eingang des Friedhofs.«
Das war ein Befehl, dem sich keiner zu widersetzen wagte. Aber der Leutnant wußte, daß den keineswegs weichen Männern eine Gänsehaut über den Rücken lief.
Es war ein besonderer Einsatz, nach Lamias zu suchen. Weiblichen Vampiren, die jederzeit zum tödlichen Schlag ausholen konnten.
Achmud Haddur hatte selbst eine Gänsehaut, als er mit klappernden Zähnen zu dieser späten Nachtstunde auf sein Fahrrad stieg, um den Heimweg anzutreten.
Das Unwetter hatte längst aufgehört. Aber bei jedem Tropfen, der neben ihm auf die Erde klatschte, fuhr der Leutnant zusammen. Es tropfte aus allen Ritzen und Mauern, die von der Flut vernichtet worden waren.
Und es knackten Zweige unter den Reifen seines Fahrrads. Jedes Knacken kam dem Leutnant
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