0022 - Der Todesfluß
Kettenhemd spannte. Die ganze Gestalt schimmerte silbrig hell, bis auf die rechteckigen Augenschlitze des Helmes, die den jungen Fährmann schwarz und drohend anstarrten.
Es dauerte nur wenige Sekunden, und weitere Gestalten materialisierten sich. Alle trugen sie Ritterkleidung, nur wirkten sie schmächtiger und bedeutungsloser als das Wesen, das zuerst aufgetaucht war.
»Du hast uns gerufen, Robert Levin!« rief jene Gestalt, die unmittelbar vor der Rampe der Fähre schwebte. Die Stimme des Dämons klang hohl, wie aus der Tiefe einer Gruft.
Nein! wollte Robert schreien. Doch er brachte keinen Laut hervor.
Seine Stimmbänder versagten.
»Nun, hier sind wir!« fuhr die Rittergestalt höhnisch fort. »Du kannst nun vorbringen, was du uns zu sagen hattest! Ein wenig Zeit bleibt dir dafür noch.«
Die anderen Dämonen kicherten schrill. Vor Freude tanzten sie über der erhellten Wasseroberfläche auf und ab.
»Ich… ich …«, krächzte Robert verzweifelt, »ich habe euch nicht gerufen. Niemals!«
»Du vergißt schnell!« rief der Anführer der Dämonen. »Aber es ist unerheblich, Robert Levin. Wir hätten dich ohnehin zu uns geholt.«
»Nein!« schrie Robert in panischer Angst. »Neiin…«
Die Gestalten schwebten plötzlich auf ihn zu. Sein Schrei erstickte in einem Gurgeln. Er konnte nicht fliehen. Seine Stiefel schienen auf den Decksplanken festgenagelt zu sein.
Auf einmal sah er das Tau. Eines der Taue, mit denen die Fähre am jenseitigen Ufer festgemacht wurde. Die Dämonen schleppten es heran.
Hilflos mußte Robert es geschehen lassen, daß sie es ihm um den Hals schlangen. Feucht und kalt legte sich der Hanf wie eine Klammer um seine Kehle. Seine Augen quollen aus den Höhlen.
Er spürte, daß der Tod nahe war. Das Blut raste durch seine Adern. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen. Die Todesangst durchbohrte ihn wie eine Lanze aus eiskaltem Stahl.
Den Schrei, den er noch ausstoßen wollte, brachte er nicht mehr heraus.
Die Dämonen packten ihn. Ihre Fäuste brannten wie glühende Zangen auf seiner Haut. Sie schleppten ihn vorwärts, stießen ihn über den Rand der Fähre hinaus.
Kopfüber tauchte Robert Levin ins Wasser. Schäumend schlugen die eisigen Fluten über ihm zusammen.
Jetzt, plötzlich, gehorchten seine Muskeln wieder.
Er kämpfte gegen die Strömung an, die ihn mit unbändiger Kraft erfaßte. Seine Schwimmbewegungen waren verzweifelt und hastig.
Einen Moment lang sah es so aus, als würde er den Naturgewalten trotzen können.
Neue Hoffnung beseelte ihn. Doch er bemerkte nicht, wie sich das Tau straffte…
Dann gab es einen furchtbaren Ruck.
Es war Robert Levins letzte Wahrnehmung. Sein Leben war ausgelöscht, vernichtet durch die Mächte der Finsternis, deren Existenz er verleugnet hatte.
Als dunkles, totes Bündel pendelte sein Körper am Tau. Die Strömung spielte mit ihm, nur zehn Meter hinter der Fähre, wo sich durch den plumpen Rumpf des Wasserfahrzeugs kleine Strudel bildeten.
Die Gestalten der Dämonen ließen ein letztes triumphierendes Kichern hören. Dann verschmolzen sie mit der silbernen Helligkeit, aus der sie gekommen waren. Auch der Lichtschein bildete sich bis zu dem anfänglichen Punkt zurück, der in der Tiefe der Fluten versank.
Von unsichtbaren Kräften bewegt, glitt die Fähre langsam ans westliche Ufer zurück. Dort schob sie sich auf die befestigte Böschung, und die Taue rollten sich selbsttätig um die stählernen Poller.
Kein Windhauch regte sich mehr. Stille kehrte über der Rhône ein.
***
Schwere graue Wolken hingen tief über dem Land am Fluß. Bäume und Buschwerk bogen sich unter einem kalten Wind, der hohe Luftfeuchtigkeit aus der Rhône-Niederung mit sich trug.
Erste feine Regentropfen sprenkelten die Windschutzscheibe des dunkelblauen Peugeot 504, der mit mäßiger Geschwindigkeit über die kurvenreiche Provinzstraße rollte.
Professor Zamorra schaltete die Scheibenwischer ein. Der Regen verstärkte sich. Das Heizgebläse verteilte behagliche Wärme im Wageninneren. Dennoch zog Bill Fleming fröstelnd die Schultern hoch.
»Keine sehr einladende Gegend«, meinte er, »die Einöde und das Wetter schlagen einem garantiert aufs Gemüt. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Leute hier leben. Abends verkriechen sie sich hinter den Ofen und erzählen schaurige Geschichten.«
»Sicher hast du recht«, entgegnete Zamorra, »aber in den meisten Geschichten steckt auch ein Fünkchen Wahrheit.«
Nach einer langgezogenen Rechtskurve,
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