0022 - Der Todesfluß
äußerst stark. Doch schon bald war das leblose Bündel so nahe am Ufer, daß der zweite Mann mit der hakenbewehrten Stange eingreifen konnte. Der Stahlhaken krallte sich fest, und die beiden Männer konnten nun gemeinsam ziehen.
Als sie den Leichnam ins Ufergras zogen, ging ein Raunen durch die Menge. Selbst auf die Entfernung von etwa zwanzig Meter war deutlich zu sehen, auf welch grauenvolle Weise der Mann sein Leben ausgehaucht hatte. Das Ende des Taues war um seinen Hals geschlungen. Und die Kraft der Strömung mußte so stark gewesen sein, daß die Wirkung einer Hinrichtung am Galgen gleichgekommen war. Ein markerschütternder Schrei zerriß plötzlich die Stille.
Eine kleine, rundliche Frau löste sich aus der Reihe der stummen Zuschauer und rannte die Böschung hinunter. Ihr Schrei brach nicht ab. Auf halbem Weg stolperte sie, schlug hin. Aber sofort rappelte sie sich wieder auf. Ihr Schrei klang wie »Robert«, doch es war nicht genau zu verstehen.
Einer der beiden Männer bei dem Toten wollte die verzweifelte Frau aufhalten. Doch er hatte offenbar die Kraft unterschätzt, die sie in ihrem grenzenlosen Schmerz entwickelte. Sie riß sich los, warf sich mit einem letzten Aufschrei auf den kalten, nassen Leichnam.
Nur noch am Zucken ihrer Schultern war zu erkennen, wie krampfhaft sie schluchzte.
Neue Helfer lösten sich aus der Zuschauerreihe. Sie scharten sich um den Toten und die Frau, die ihre Umgebung nicht mehr wahrnahm. Nur wenige Worte wurden gewechselt. Dann packten die Männer zu.
Erneut schrie die Frau auf, als sie von dem Toten fortgezogen wurde. Sie setzte sich zur Wehr, schlug um sich, aber es half nichts.
Schon bald versiegten ihre Schreie. Ihre Kraft schien zu schwinden.
Die anderen rollten den Toten in eine Plane und luden ihn auf den Karren.
»Das sieht nach Selbstmord aus«, meinte Bill Fleming. »Wie kommen die Leute dazu, den Toten einfach wegzuschaffen? Sie hätten die Polizei verständigen müssen. In diesem Fall dürfte die Flußpolizei zuständig sein, sofern es hier so etwas gibt…«
»Es wäre nicht gut, wenn wir uns schon jetzt einmischen«, entgegnete Zamorra, »die Menschen hier denken in Begriffen, die uns fremd sind. Auf jeden Fall war es kein Selbstmord.«
Bill Fleming blickte seinen Freund verblüfft an.
»Du meinst… Mord? Woher willst du das wissen?«
»Wir werden es bald erfahren«, sagte Zamorra leise und deutete mit einer kaum merklichen Handbewegung zum Fluß hinunter.
Der Mann, der den Toten mit der Stange aus dem Wasser gezogen hatte, blickte forschend zu den beiden elegant gekleideten Fremden herauf. Im gleichen Moment glättete sich seine Miene. Er schien zu wissen, um wen es sich handelte. Er gab den übrigen Helfern kurze Anweisungen und stapfte dann mit schweren Schritten die Böschung herauf, auf Zamorra und Bill Fleming zu.
Der Mann war untersetzt und breitschultrig. Wind und Wetter hatten seine Gesichtshaut leicht gerötet. Seine blauen Augen blickten offen und ohne jedes Mißtrauen. Das Ölzeug knarrte bei jedem Schritt.
»Professor Zamorra?« fragte der Mann.
Zamorra nickte.
»Ich habe meinen Freund Bill Fleming aus New York mitgebracht.« sagte er, »er ist Historiker und Naturwissenschaftler.«
»Mein Name ist Georges Levin«, stellte sich der Mann vor, »ich habe Ihnen den Brief geschrieben, Professor. Und ich bin sehr dankbar, daß Sie gekommen sind. Der Tote dort unten…«
Er holte tief Luft, wie, um sich von einer schweren Last zu befreien. »… ist mein Bruder.«
Zamorra und Bill Fleming waren bestürzt. Selbst für den Professor, der mit Unheil gerechnet hatte, war diese Nachricht alarmierend. Welche Bedeutung hatte die Tatsache, daß ausgerechnet der Mann, der ihn wegen rätselhafter Geschehnisse gerufen hatte, nun seinen Bruder verlor?
Der Ochsenkarren setzte sich rumpelnd in Bewegung. Die Männer, die die Frau führten, hatten bereits den Ortsrand erreicht. Die übrigen Leute folgten dem Karren. Es herrschte Schweigen. Das Grauen hatte allen die Kehle verschnürt.
»Kommen Sie mit in mein Haus«, bat Georges Levin, »ich werde versuchen, Ihnen eine Erklärung zu geben, Messieurs.«
Professor Zamorra und Bill Fleming nickten stumm. Beide mußten vor sich selbst zugeben, daß ihre Ankunft in Soranges einem Schock gleichkam. Sie brauchten Zeit, um das Gesehene zu verwinden.
Georges Levin fuhr in der Limousine der beiden Freunde mit. In gemessenem Abstand folgten sie der Kolonne der Menschen, die den Leichnam ihres
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