0022 - Der Todesfluß
Mitbürgers nach Hause brachten. Kurz darauf passierten sie das Häuschen auf dem Hof von Georges Levin. Zamorra und Bill Fleming erfuhren, daß Robert Levin hier mit seiner Familie ein bescheidenes aber glückliches Leben geführt hatte.
»Meine Frau und die Nachbarn kümmern sich um Marie und die beiden Söhne«, erklärte Georges Levin, »es wird alles getan, was möglich ist.« Es klang wie eine Entschuldigung dafür, daß er selbst es in diesem Augenblick für wichtiger hielt, mit dem Professor zu reden.
Zamorra brachte den Peugeot vor dem Dielentor des Bauernhauses zum Stehen. Georges Levin führte die Männer durch die halbdunkle Diele, in der es nach frischen Rübenblättern roch. Von beiden Seiten waren die Freßgeräusche der Kühe zu hören, die wegen des schlechten Wetters vorzeitig von der Weide abgetrieben worden waren.
In der behaglichen Wohnstube des Bauernhauses strahlte ein wandhoher Kachelofen gemütliche Wärme aus. Bill Fleming verlor kein Wort mehr darüber, daß es gerade diese anheimelnde Atmosphäre war, nach der er sich in den vergangenen Stunden gesehnt hatte. Georges Levin streifte auf dem Flur sein Ölzeug ab, holte Wasser für den Teekessel und schob diesen in die Klappe des Kachelofens. Auf einer dunkelgebeizten Kommode standen Porzellantassen, Löffel und Zuckerschale bereit. Vorweg servierte Levin einen Cognac zum Aufwärmen. Bill Fleming verzichtete diesmal auf Soda und Eis.
Schließlich setzte sich Georges Levin in den noch freien Ohrensessel. Es schien, als habe er die Minuten des Hantierens gebraucht, um seine Gedanken zu ordnen.
»Seit ich Ihnen den Brief schrieb, sind zwei Wochen vergangen«, sagte Georges Levin, »und in dieser Zeit hat sich das Unheil über Soranges zusammengeballt. Der Tod meines Bruders war vorauszusehen.«
»Warum hat es dann niemand verhindert?« rief Bill Fleming verständnislos.
Levin lächelte matt.
»Kein Mensch kann etwas verhindern, das nach dem Willen der Finsternismächte geschieht, Monsieur. Außer…« Er schwieg, wandte lediglich den Blick zu Professor Zamorra.
»Berichten Sie von Anfang an«, bat dieser, »über die Bedeutung der Fähre haben Sie mir ja geschrieben. Auch mein Freund ist dar- über informiert.«
Georges Levin preßte die Fingerspitzen gegeneinander. Einen Moment lang starrte er unentschlossen auf die Tischplatte. Dann hob er den Kopf, schien sich einen inneren Ruck zu geben.
»Der Fährdienst in Soranges wurde seit Jahrhunderten von der Familie Fourcher verrichtet. Der Beruf vererbte sich vom Vater auf den Sohn. Zeitweise soll die Familie auch mehrere Söhne gehabt haben, die sich dann untereinander ablösten. Jedenfalls hat niemals ein Fourcher diesen Ort verlassen, um sich anderswo eine Stellung zu suchen.«
»Und die Töchter?« fragte Bill Fleming. »Sind die auch hiergeblieben?«
Levin zuckte die Achseln.
»Es ist nicht bekannt, daß die Fourchers Töchter gehabt haben. Jedenfalls kenne ich keine Chronik, in der darüber berichtet wird. Nun, unser guter alter Jacques Fourcher war ein Eigenbrötler, ein verschlossener, starrköpfiger Mensch, der nie Freunde hatte. Und er fand auch keine Frau. Vielleicht hat er es nie wirklich versucht. Wer weiß? Jedenfalls war er der Letzte aus der Fährmannsfamilie. Er starb vor drei Tagen. Ich hatte in meinem Brief erwähnt, daß er bereits auf dem Sterbebett lag. Nun, sein Tod war rätselhaft. Eigentlich wissen wir nicht einmal genau, ob er wirklich tot ist. Jacques Fourcher ist verschwunden. Sein Totenbett war eines Morgens leer. Die meisten von uns nehmen an, daß er in den Fluß gegangen ist. Beziehungsweise, daß er geholt wurde, daß er den Befehl dazu erhielt. Auch ich bin dieser Meinung. Anders ist es nicht zu erklären.«
Der Wasserkessel summte. Georges Levin stand auf. Seine Bewegungen wirkten müde.
Bill Fleming wollte etwas einwenden. Aber Zamorra forderte ihn mit einer raschen Handbewegung auf, zu schweigen. Der Professor begann, die geheimnisvollen Zusammenhänge zu erfassen. Er wollte nicht, daß Levin jetzt durch eine unbedachte Bemerkung aus dem Konzept gebracht wurde. Am allerwenigsten half es, wenn man die Furcht vor den Mächten der Finsternis kritisierte.
Georges Levin sprach weiter, während er den Tee zubereitete.
Ausführlich schilderte er, wie sich sein Bruder entschlossen hatte, den Posten des Fährmannes zu übernehmen.
»Vor allem die älteren Leute im Dorf warnten davor«, fügte er hinzu. Er brachte die Teekanne zum Tisch, schenkte das
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