0022 - Der Todesfluß
gerade noch, daß Nicole schwach aber regelmäßig atmete. Sie war bewußtlos.
Möglicherweise hatte sie einen Schock erlitten.
Dennoch fühlte Professor Zamorra eine Erleichterung, wie er sie selten zuvor empfunden hatte. Er hob Nicole auf und trug sie auf den Armen aus der Burgruine. Sie war sehr leicht, und es bereitete ihm kaum Mühe, sie zum Fluß zu bringen. Das Boot lag noch an der Stelle, an der er es zurückgelassen hatte.
Unbehelligt setzte er über. Auch auf dem Weg zum Hof von Georges Levin wagten sich die Dämonen nicht mehr an ihren Todfeind heran.
Sie hatten seine Macht zu spüren bekommen. In der sicheren Finsternis sannen sie nun vermutlich darauf, wie sie ihn trotz allem bezwingen konnten.
***
»Nein!« rief Bill Fleming im Brustton der Überzeugung. »Nein, das gibt es einfach nicht!« Er lehnte sich zurück, rieb sich das Kinn und musterte Nicole sinnierend. Dabei schüttelte er immer wieder fassungslos den Kopf.
»Ich weiß, was ich gesehen habe!« entgegnete Nicole energisch. Sie hatte sich schon halbwegs wieder von dem Schock erholt. »Wollen Sie mir einreden, daß mein Verstand nicht mehr funktioniert, Bill?«
»Keineswegs«, sagte er verlegen, »fassen Sie es bitte nicht falsch auf, Nicole. Ich versuche lediglich, eine Erklärung zu finden.«
»Dafür gibt es keine Erklärung«, erwiderte Nicole spitz. »Bis vor kurzem hatte ich noch die gleiche Meinung wie Sie. Aber das ist vorbei. Ich habe mich überzeugen lassen. Und wenn man in Lebensgefahr schwebt, sucht man nicht mehr nach logischen Erklärungen. Alles hat sich so abgespielt, wie ich es berichtet habe, Bill. Und wenn der Professor nicht rechtzeitig gekommen wäre…«
Nicole schwieg. Wieder erschienen die bösen Bilder aus der Erinnerung vor ihrem geistigen Auge. Vergessen würde sie es niemals.
Nur ihre innere Stärke half ihr darüber hinweg.
Zamorra kehrte aus dem Bad zurück. Er hatte eine heiße Dusche genommen und trug jetzt seinen flauschigen tabakfarbenen Frotteemantel. Ein Cognac weckte seine Lebensgeister. Die Strapazen der vergangenen Stunden hatte er nahezu überwunden.
Die Leute auf dem Hof von Georges Levin schliefen noch. Zamorra hatte bewußt darauf verzichtet, den Gastgeber zu wecken. Nicole, Bill und er brauchten Zeit, um die Geschehnisse in Ruhe zu überdenken. Denn es kam nun darauf an, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.
Zamorra ließ sich in einen der Sessel seines Zimmers sinken.
»Wie fühlen Sie sich, Nicole?« fragte er besorgt.
»Besser«, antwortete sie strahlend, und in ihren Augen erschienen bereits wieder jene goldfarbenen Tupfer, die selbst ihren Chef verzaubern konnten.
Nicole trug Bills Morgenmantel. Ihr Rock und die Strickjacke waren verschmutzt. Beides hatte sie im Bad zurückgelassen.
Zamorra nickte nachdenklich. Er war zu einem Entschluß gekommen.
»Nicole, Sie werden dieses Zimmer vorläufig nicht verlassen. Wenn wir Glück haben, dauert es nur ein oder zwei Tage. Als einzigen werden wir Georges Levin, den Hofbesitzer, einweihen. Die übrigen Bürger von Soranges brauchen nichts von Ihrer Anwesenheit zu erfahren.«
»Aber warum nicht, Chef?«
»Fragen Sie nicht danach. Es gibt verschiedene Gründe.«
»Du meinst…«, setzte Bill Fleming an.
Zamorra unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Er wußte, daß der Freund seine Gedanken erraten hatte. Wenn die alten Leute von Soranges nach den jüngsten Geschehnissen beschlossen, den Dämonen nun doch ein Blutopfer zu bringen, und wenn sie wußten, daß eine fremde junge Frau im Dorf war… Es konnte schlimme Folgen haben. Vor allem dann, wenn die Leute darauf kamen, daß sie ja kein Mädchen aus ihren eigenen Familien zu opfern brauchten.
»Dich möchte ich bitten, ständig in Nicoles Nähe zu bleiben«, wandte sich der Professor an den Freund, »du darfst sie keinen Moment aus den Augen lassen, egal, was geschieht.«
»Diese Aufgabe übernehme ich mit Vergnügen«, sagte Bill lächelnd und wechselte einen verschmitzten Blick mit Nicole.
»Ich komme mir allmählich sehr wichtig vor«, sagte sie, »ist das nicht etwas übertrieben, Professor?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir müssen damit rechnen, daß die Mächte der Finsternis ein zweites Mal versuchen werden, Sie als Druckmittel gegen mich zu verwenden. Hoffen wir nur, daß Bill stark genug sein wird, um Sie zu beschützen.«
»Worauf du dich verlassen kannst!« ereiferte sich der Amerikaner.
Er hatte begriffen, wußte, daß Zamorra in erster Linie von seiner
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