003 - Der Totentanz
Beim vierten Mal hob niemand ab. Er ließ es lange klingeln, und als dann immer noch niemand an den Apparat kam, wählte er die drei letzten Nummern. Dort ging es ihm wie bei den ersten.
Er war entmutigt. Natürlich konnte Flandrin auch außerhalb der Stadt wohnen oder kein Telefon haben. Dann war es wesentlich schwieriger, ihn zu finden. Aber eine Möglichkeit blieb ihm noch, nämlich dort, wo sich niemand gemeldet hatte. Die Nummer gehörte zu einer Adresse in einem modernen Stadtviertel.
In seinen alten Wintermantel gehüllt, machte sich Pierre Merlin auf den Weg.
Das Haus, das er suchte, lag an einer breiten, mit Bäumen bestandenen Straße hinter einem kleinen Vorgarten. Man sah dem Gebäude bereits von außen an, dass es elegante und teure Wohnungen enthielt. Auf einem der Briefkästen in der Halle las er den Namen, den er suchte. Mit klopfendem Herzen stieg er in den Fahrstuhl, der ihn in den achten Stock hinaufbrachte. An der Tür befand sich ein Namensschild: Arthur Flandrin.
Er drückte auf die Klingel. Ein Glockenspiel ertönte hinter der Tür. Pierre atmete heftig. Er wusste nicht, was er sagen sollte, wenn jemand öffnete.
Vielleicht: »Entschuldigen Sie, ich wollte nur fragen, ob Ihr Bruder aus dem Grab zurückgekommen ist.«
Das ging natürlich nicht.
Pierre klingelte von neuem, doch niemand kam. Er legte das Ohr an die Tür, zog den Kopf dann aber sofort wieder zurück, weil es ihm gar zu peinlich gewesen wäre, von jemandem in dieser Haltung überrascht zu werden.
Drinnen war alles still. Nachdem er noch zweimal vergeblich geklingelt hatte, fuhr er mit dem Fahrstuhl wieder hinunter. Er musste eben noch einmal wiederkommen.
Als er an der Loge der Hausmeisterin vorbeikam, entschloss er sich, sie nach Flandrin zu fragen.
Er erfuhr von ihr, dass Arthur Flandrin ausgezogen war. Pierre gab sich als alten Freund aus und versuchte, mehr von der Frau zu erfahren.
»Vor vier Tagen ist er ausgezogen«, sagte sie. »Ich habe seine neue Adresse nicht. Ein Teil seiner Sachen ist noch hier. Aber sonst weiß ich auch nichts weiter.«
Die Hausmeisterin schien verlegen zu sein. Pierre hatte den Eindruck, dass sie nicht recht mit der Sprache herauswollte.
»Aber … ist er ganz allein gewesen?« fragte Pierre.
»Nein, ich glaube, es war noch ein Herr bei ihm. Aber ich weiß es nicht Eren au.«
»Sehr erstaunlich. Ich weiß, dass er sehr unter dem Tod seines Bruders litt. Wie sah denn der Herr aus?«
Die Frau senkte den Blick. Pierre merkte deutlich, dass ihr das Gespräch sehr unangenehm war.
»Ich seh mir doch die Leute nicht so genau an«, sagte sie dann ausweichend.
»Haben Sie den Begleiter von Herrn Flandrin gesehen? Kannten Sie ihn nicht?«
»Nein Ich habe ihn nicht gesehen!« schrie die Hausmeisterin ihn plötzlich an. »Ich habe ihn nicht gesehen«, wiederholte sie erregt. »Was wollen Sie denn eigentlich von mir? Ich bin doch kein Polizist!«
Damit machte sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Pierre lächelte in sich hinein. Er war überzeugt, dass die Frau Angst hatte. Was mochte sie gesehen haben? Hatte sie vielleicht geglaubt, in Arthur Flandrins Begleiter dessen Bruder Dominique erkannt zu haben, der vor acht Monaten gestorben war?
Als Pierre das Haus verließ, zog er die rechte Hand aus der Tasche. In den Fingern hielt er die Visitenkarte.
Magier-Verbindung mit Verstorbenen
3, Rue du Bon-Retour
»Ja, Christine, ja.« sagte Pierre leise. Noch am selben Abend wollte er Bornimus aufsuchen.
Es war nicht leicht, die Rue du Bon Retour, die »Straße der guten Wiederkehr«, zu finden. Pierre hatte von ihr noch nie gehört und musste sie auf dem Stadtplan suchen. Sie befand sich, wie er vermutet hatte, in der Altstadt und war ein schmaler Verbindungsweg zwischen zwei kleinen Straßen.
Pierre hatte bis zum Nachmittag gewartet, ehe er sich auf den Weg machte. Es war gegen fünf Uhr. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen. Pierre hatte die Schultern hochgezogen und ging tief gebeugt, um sich vor dem schneidenden Wind zu schützen.
Ehe er aufgebrochen war, hatte er ein kurzes Zwiegespräch mit Christine geführt. Ihr Bild, das schon mehrere Jahre alt war, sah ihn mit sanftem und traurigem Lächeln an.
»Vielleicht mache ich eine Dummheit, meine Liebe«, sagte er, »aber ich halte es nicht mehr aus. Wenn dich wirklich jemand aus dem Schattenreich zurückholen kann, ist es Bornimus. Ich gehe jetzt hin und sage dir inzwischen nicht auf Wiedersehen, denn vielleicht kann ich dich
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