0039 - Turm der Verlorenen
hatte er es verdrängt, um sich nicht noch nervöser zu machen, als er es schon war. Doch nun sah er die Szene wieder klar vor sich. Und er begriff, dass man nur mit ihm gespielt hatte!
Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn abstürzen zu lassen. Doch scheinbar wollte man ihn am Leben lassen, um sich ausgiebig an seinem Sterben ergötzen zu können. Eine heiße Wut stieg in dem Professor hoch, dass er zur Untätigkeit verdammt war. Doch wo kein Gegner sich zeigte, da konnte er auch nicht den Kampf beginnen. Er hoffte nur, dass es bald soweit war und das nervtötende Warten ein Ende hatte.
Zamorras Atem hatte sich wieder etwas beruhigt, und er hatte die Ruhe und Konzentration wiedererlangt, um sich seine nächste Umgebung anzuschauen.
Im Moment hockte er in einer Schießscharte, von denen mehrere in regelmäßigen Abständen die Mauerkrone des Wehrganges durchbrachen. Es war grob zugehauener Naturstein, aus dem die Mauer gefügt war. Erstaunlicherweise sah Zamorra nirgendwo die typischen Zeichen des Verfalls. Alles sah so aus, als wäre es erst vor kurzem erbaut worden. Irgendwer musste das Schloss aufs Sorgfältigste instand halten, oder es alterte aus unerklärlichen Gründen nicht.
Einige Stellen auf dem Steinboden bewiesen dem Professor, dass hier doch Leben herrschen musste. Die Stelle war blank und abgewetzt, so als wäre hier jemand gegangen, und das immer wieder und wieder.
Ein Stück entfernt erkannte Zamorra eine Falltür aus mächtigen Holzbohlen. Sie deckte wahrscheinlich die Treppe ab, über die man ins Innere des Schlosses gelangen konnte.
Zamorra nahm das Seil und befestigte es an einer Mauerzinne. Soweit er sich hatte überzeugen können, war der Abstieg über die fast senkrechte Felswand die einzige Möglichkeit, wieder ebenen Boden unter die Füße zu bekommen. Da er kaum glaubte, das Seil im Inneren des Schlosses zu brauchen, ließ er es hier, wo es ihm im Notfall gute Dienste leisten würde.
Dann ging er zu der schweren Falltür hinüber. Er unterzog sie einer genauen Untersuchung. Die Scharnierbolzen waren blank. Also musste die Tür regelmäßig benutzt werden. Doch wer auch immer diese Tür benutzte, er musste über ganz besondere Fähigkeiten verfügen. Denn auch ihm blieb zum Schloss als möglicher Weg nur die Felswand. Oder, so überlegte Zamorra, er hatte sich unten nicht genügend umgeschaut. Vielleicht konnte man sogar ganz einfach nach unten ins Tal gelangen? Wenn nun in dem Felsturm eine geheime Treppe existierte?
Doch der Gedanke erschien ihm so fantastisch, dass er ihn gleich wieder beiseite schob. Das war wohl ein Ding der Unmöglichkeit.
Zamorra kniete sich neben die Tür und presste lauschend sein Ohr gegen die massiven Holzplanken. Für einige Sekunden wagte er nicht einmal zu atmen. Sein Gesicht zeigte einen angespannten, konzentrierten Ausdruck.
Nichts. Unter ihm war alles still. Die Burg wirkte wie ausgestorben. Zamorra hatte sich davon auch schon überzeugen können, als er einen flüchtigen Blick in den Burghof hinunter getan hatte. Alle Türen, die er von dem Türmchen aus hatte sehen können, waren verschlossen gewesen. Niemand schien sich hier aufzuhalten, und doch sah man dem sauberen Hof die Pflege an, die ihm angedeihen musste.
Zamorra packte kurz entschlossen den Eisenring, der an der Falltür befestigt war, und mit dem man sie wohl öffnen konnte. Zamorra spannte seine Muskeln an und bereitete sich auf ein großes Gewicht vor, das hochzuwuchten ihm bestimmt einige Schwierigkeiten bereiten würde. Umso erstaunter war er, als er von seinem eigenen Schwung fast von den Füßen gerissen wurde. Die Tür war anscheinend federleicht. Ganz leicht und einfach schwang sie auf. Zamorra hatte nicht damit gerechnet. Der Schwung riss sie ihm aus der Hand und ließ ihn rückwärts stolpern. Mit einem dumpfen Laut krachte die Bohlentür auf den massiven Steinboden. Weithin hallte das Geräusch, und Zamorra war überzeugt, dass sein Kommen nun mit Sicherheit entdeckt war.
Einerseits ließ ihn das unruhig werden, andererseits war es ihm nur recht. Vielleicht reizte er damit seinen bislang unsichtbaren Gegner zum Handeln.
Im Licht der mittlerweile untergehenden Sonne gähnte dem Professor eine finstere Öffnung entgegen. Sie war ein Höllenschlund, der ihn magisch anzog und verschlingen wollte. Zamorra konnte sich nur mit Mühe gegen diesen seltsamen Einfluss wehren und zwang sich, überlegt und umsichtig vorzugehen.
Er löste die Taschenlampe von seinem Gürtel und leuchtete
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