0039 - Turm der Verlorenen
Fledermaus. Das Gesicht war nur schwer als menschlich zu bezeichnen, und doch ließ sich ein gewisses Ebenmaß nicht übersehen. Es sah aus wie aus Stein gehauen. Eine unbestimmte Drohung lag darin, die Unheimliches prophezeite. Dieses Wesen war nicht in freundlicher Absicht aufgetaucht. Wie Recht Zamorra mit dieser Überlegung hatte, sollte ihm sofort bewiesen werden.
Ohne ein Geräusch zu verursachen, raste das fliegende Monstrum plötzlich auf ihn zu. Dicht vor dem Professor spannte es die Flügel weit auf, bremste ab und schnappte mit den mörderischen Klauen nach dem hilflosen Menschen in der Felswand.
Unwillkürlich schrie der Professor auf. Er hatte einen zweiten Haken von seinem Gürtel gerissen und wollte ihn als Waffe gebrauchen. Verzweifelt führte er einen ungezielten Schlag gegen das Ungeheuer, in dessen kalten Augen die Mordlust funkelte.
Das musste ein Gehilfe des untoten Wissenschaftlers sein. Zamorra verfluchte seine Eile, mit der er sich zum Handeln entschlossen hatte. Er hatte seinen Gegner unterschätzt. Und er begriff, dass er wahrscheinlich auf verlorenem Posten stand.
Wieder näherte sich das schreckliche Flugwesen und startete einen neuen Angriff. Zamorra, der sich krampfhaft an dem Haken festhielt, pendelte herum und erwartete die tödliche Attacke. Er war bereit, sich so teuer wie möglich zu verkaufen.
Genau wie beim ersten Mal spannte der Flugdrache – so sah das Ungeheuer aus – seine Flügel auf und bremste ab. Zamorra gebrauchte wieder seinen Haken als Waffe.
Diesmal hatte er mehr Glück. Das Ungeheuer kam bis auf Reichweite an ihn heran. Zamorra führte einen wütenden Schlag, der den Schädel des Ungeheuers hätte zerschmettern müssen.
Doch der Haken traf auf keinen Widerstand!
Er zischte wirkungslos durch die Luft. Zamorra, der den Schwung nicht abbremsen konnte, drohte abzustürzen. Mit einem hellen Singen traf der Haken auf den Felsen über Zamorras Kopf auf und wurde ihm durch den Aufschlag aus der Hand geprellt. Das vierkantige Eisen riss eine blutige Strieme über die Handfläche und verschwand in der Tiefe.
Hatte der Professor gegen ein Phantom gekämpft? Er hatte das Ungeheuer doch ganz deutlich gesehen und gehört. Gehört? Je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich hier täuschte. Er hatte überhaupt nichts gehört und sich die Geräusche nur eingebildet. Alles, was er erlebte hatte, war nur ein Traum gewesen, allerdings ein sehr naturgetreuer und lebendiger, wie ihm der bohrende Schmerz in der Hand bewies.
Zamorra schaute sich um. Er konnte seinen eingebildeten Feind nirgendwo entdecken. Er hatte sich ebenso spurlos im Nichts verloren, wie er daraus aufgetaucht war. Zamorra war überzeugt, dass Mordius, sein Todfeind, seine Hand im Spiel hatte. Er musste ihm diese Schreckensbilder auf geistigem Wege übermittelt haben. Und das war ein neuer Beweis, dass sein Feind ganz in der Nähe war und sich auf den letzten Kampf vorbereitete.
Zamorra allerdings konnte sich nicht vorbereiten. Er durfte froh sein, wenn er das Schloss auf dem Felsenturm, diese Bastion des Unheils, halbwegs gesund und lebendig erreichte. Wenn es soweit war, würde ihm sicher schon etwas einfallen, wenn nicht, dann hatte sein letztes Stündlein geschlagen…
***
Die letzte Stunde dieser strapaziösen Kletterpartie verlief ereignislos. Zwar brannte die Sonne mit unverminderter Kraft auf den einsamen Mann in der grandiosen Felsmauer, doch war das die einzige Qual, der der Professor sich ausgesetzt sah.
Immer öfter machte er kleine Pausen und legte den Kopf in den Nacken. Jeden Moment meinte er, mit einem neuen Angriff von irgendeiner Seite rechnen zu müssen. Zamorra wäre nicht einmal verwundert gewesen, wenn der Fels unter seinen Händen zu leben angefangen hätte. Er hatte bei seinem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen das Genie des Satans schon soviel erlebt, dass ihn praktisch nichts mehr soweit verwirren konnte, dass er seinen klaren Kopf verlor.
Immer weiter kämpfte Zamorra sich durch den engen Riss hinauf zu dem Schloss, das als uneinnehmbare Festung dort oben auf der Spitze der Felsnadel thronte. Wie lange er schon unterwegs war, dafür hatte Zamorra jeglichen Sinn verloren. Für ihn ging es nur darum, durchzuhalten und nicht schlappzumachen.
Übergroß boten sich ihm winzige Eigenheiten des Felsgesteins dar.
Dies war seit Stunden seine Welt, von der er nicht wusste, ob er ihr je würde entrinnen können. Die nervliche Belastung und die Ungewissheit,
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