004 - Kerry kauft London
gewöhnt, als daß er sich allzuviel daraus gemacht hätte; aber es ärgerte ihn doch.
Hermann war den ganzen Morgen ungewöhnlich lustig, obgleich sein Diener mit finsterem Gesicht umherging und nur das tat, was gerade von ihm verlangt wurde. Er kam dem Weinkeller nicht zu nahe, hielt es aber auch nicht für nötig, seinem Herrn zu melden, daß ein großer, eichener Lehnstuhl auf unerklärliche Weise aus dem Arbeitszimmer verschwunden sei.
»Er wird wahrscheinlich denken, daß ich ihn auch mit nach Cornwall genommen habe«, brummte er vor sich hin.
Um drei Viertel elf wurde eine Taxe von Park Lane 410 angefordert, und Martins Gepäck wurde aufgeladen. Ein interessierter Reporter des Evening Herald - der ehemals eine große Kanone beim Monitor gewesen war - beobachtete Martins Abfahrt mit sehr gemischten Gefühlen; und als eine Viertelstunde später Hermann selbst aus dem Hause trat und die Tür sorgfältig zuschloß, folgten ihm zwei Leute in gehöriger Entfernung; aber keiner von ihnen war der Zeitungsschreiber.
Kapitel 20
Vera Zeberlieff war an diesem Morgen mit einem Schub anderer Frauenrechtlerinnen aus dem Gefängnis entlassen worden und hatte lachend die offizielle Begrüßung abgelehnt, die politische Heißsporne in einem Restaurant in Holborn vorbereitet hatten.
Als sie aus dem Gefängnis trat, schaute sie sehnsüchtig nach einem bestimmten Gesicht aus, aber es war nicht da, und sie hatte ein Gefühl der Enttäuschung, die, das sagte sie sich selbst, größer als nötig war.
Sie dachte daran, daß Bray seinen Lebensunterhalt verdienen müsse, daß es ihm vielleicht sehr peinlich sei, um Urlaub nachzusuchen, um eine Freundin vom Gefängnis abzuholen. Sie lächelte bei diesem Gedanken. Er würde schwerlich lügen. Zu der Klasse von Menschen gehörte er nicht, und in diesem Punkt schätzte sie Gordon Bray richtig ein.
Sie rief eine Taxe an und fuhr zu dem Hotel, in dem sie eine Reihe Zimmer gemietet hatte. Die Zofe erwartete sie mit Tränen in den Augen.
Ein paar freundliche Worte brachten den Tränenstrom rasch zum Versiegen und taten einem von der Zofe wohlvorbereiteten Erguß durchaus angebrachter Anteilnahme Einhalt.
»Ach was, ich will jetzt frühstücken!« Sie fühlte sich glücklich und stark. Der gesunde Sinn der Jugend hatte ihr über den kleinen Schmerz hinweggeholfen, den ihr die Abwesenheit des geliebten Mannes verursacht hatte.
Unzählige Briefe erwarteten sie. Einen, der die Handschrift ihres Bruders trug, griff sie heraus. Er war sehr kurz: Kein Wort der Anklage, kein Wort des Vorwurfs; der Ton war fast herzlich. Er schrieb ihr, er würde am Morgen ihrer Entlassung um halb zwölf bei ihr vorsprechen, und bat sie, ihm diese Gelegenheit zu einer Aussprache freundlichst zu gewähren.
Sie ordnete an, daß man ihn sofort melde, wenn er käme.
King Kerry sandte einen launigen Willkommensgruß. Im übrigen enthielten die Briefe nur den üblichen Ausdruck der Billigung oder Mißbilligung, je nachdem ihre zahlreichen Freunde ihre Handlungsweise beurteilt hatten. Um halb zwölf kam Hermann und wurde in ihr Empfangszimmer geführt. Er reichte ihr nicht die Hand; auch den Stuhl, den sie ihm anbot, lehnte er ab.
»Nun, Vera«, begann er, »ich denke, wir könnten uns jetzt wohl verständigen. Ich will dir ein paar überraschende Geständnisse machen; und da wir ja jetzt getrennt leben und wieder von vorn anfangen müssen, so halte ich das für ratsam und notwendig. Zunächst wird es dich kaum überraschen, zu hören, daß es mir nicht besonders leid getan hätte, wenn du vor dem Antritt des zweiten Teiles der Erbschaft gestorben wärest.«
Sie nickte und musterte ihn mit kaum verhohlenem Spott. »Bist du dir klar darüber, daß auch ich nicht sehr getrauert hätte, wenn du vor diesem Zeitpunkt gestorben wärest? Und weißt du auch, daß ich durch deinen Tod einen beträchtlichen Vorteil gehabt hätte?«
Er sah sie verdutzt an. War sie …? Aber nein - sie machte nur Scherz; er sah in ihren Augen ein ironisches Lachen.
»Da wir beide Mordgedanken hegen«, sagte er launig, »hat ein Geständnis wenig Sinn. Jetzt, wo du dein Geld geerbt hast und ich weiß, daß du im Gefängnis mit deinem Anwalt gesprochen hast…«
Sie neigte zustimmend den Kopf.
»Soweit ich sehen kann, besteht also die einzige Möglichkeit, mir etwas von deinem Gelde zu sichern, darin, daß ich einen Mann für dich finde.«
Sie lachte, beobachtete ihn aber scharf.
»Mein lieber Hermann, das ist schon seit sehr langer
Weitere Kostenlose Bücher