004 - Kerry kauft London
und gab ihm etwas zu trinken, und er - er klappte zusammen«, brachte er abgerissen hervor.
»Betäubt?« fragte Leete tadelnd.
»Nein! Nein! Nein! Es war nur ein bißchen zu stark für ihn. Weiter nichts!« wehrte Hermann ab. »Ich wollte mir einen Scherz leisten und schleppte ihn in den Keller und band ihn an einen Stuhl. Ich schwöre Ihnen, Leete, daß ich ihm kein Leid antun wollte.« - Seine Worte überstürzten sich. - »Kommen Sie mit, und sehen Sie selbst!«
Die beiden Männer gingen die Treppe hinunter, und Leete sah sich schweigend um. »Was ist das auf dem Boden?« fragte er.
»Blut«, erwiderte Zeberlieff.
Leete zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück. »Ich will nichts damit zu tun haben!«
»Aber ich schwöre Ihnen«, bestürmte ihn Zeberlieff. »Ich weiß von nichts. Ich ließ ihn hier zurück, als ich heute morgen wegging.«
»Ich will gar nichts davon hören«, fiel Leete ein und hob abwehrend die Hand. »Ich habe nichts damit zu tun und weiß von nichts! Ich bemerke ausdrücklich, daß ich in solche Sachen nicht hineingezogen werden möchte. Guten Morgen!« Er sprach hastig und eilte in wenig würdevoller Haltung hinaus. Hermann blieb allein im Hause.
»Um Gottes willen!« murmelte er. »Man wird mich für den Täter halten. Die Polizei wird herkommen und Haussuchung halten. Ich muß es wegwaschen.«
In fieberhafter Eile lief er in den Keller und schleppte den Stuhl an das Tageslicht. Er reinigte, so gut er konnte, den kostbaren Stoff mit warmem Wasser und stellte den Stuhl zum Trocknen vor einen Gasofen. Er arbeitete, so schnell er konnte. Die Hüter des Gesetzes konnten ja jeden Augenblick da sein. Nach längerem Suchen fand er einen Eimer und das Scheuerzeug der Reinemachefrau. Und dann war er zehn Minuten lang damit beschäftigt, jede Spur der Tragödie zu beseitigen.
Wer konnte Bray zu Hilfe gekommen sein? Und wer hatte ihn nach seiner Befreiung verwundet? Wenn jener Kerl gekommen wäre - der Mann, den er gedungen hatte, Else Marion das Geheimnis des Kombinationsschlosses abzupressen! Wenn er sich heimlich eingeschlichen und den Gefangenen entdeckt hätte! Wenn nun die Polizei schon dagewesen wäre! Aber nein! Die hätte das Haus nicht wieder verlassen …
In fieberhafter Aufregung ging er in Erwartung des Unvermeidlichen in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Es wurde Abend, und immer noch war von der Polizei nichts zu sehen. Er war furchtbar hungrig, denn er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Er kleidete sich schnell um und ging hinaus, entschlossen, in dieser Nacht nicht in seine Wohnung zurückzukehren. Er würde im Grillroom des Carlton-Hotels speisen; dafür brauchte man sich nicht besonders anzuziehen. Er fand ein Tischchen in einer der Nischen des bekannten Untergrundspeiseraumes und verschlang gierig die Speisen, die der Oberkellner Gaston ihm vorsetzte.
In der nächsten Nische unterhielt sich, dem Lachen nach zu urteilen, eine lustige Gesellschaft. Er war zu hungrig, um besondere Notiz davon zu nehmen. Als aber der erste Appetit gestillt war, erwachte in ihm auch wieder die Lebenslust und das Interesse an seiner Umgebung. Das Lachen hörte nicht auf, und es fiel ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung ein wenig auf die Nerven. Dann glaubte er, seinen Namen gehört zu haben, stand halb auf und lauschte gespannt. Er hörte eine Stimme, die er nicht kannte: »Natürlich war es häßlich, Fräulein Zeberlieff, aber ich mußte es nun einmal tun.« - Hermann runzelte die Stirn. - »Es war der künstlerische Abschluß, den die Umstände erforderten. Mit roter Tinte kann man keinen Säugling täuschen; ich wette aber, daß er sich täuschen ließ. Nachdem ich also Herrn Bray befreit hatte …«
Hermann Zeberlieff trat aus seiner Nische heraus, so daß er die Gäste am Nebentisch sehen konnte. Es waren seine Schwester, ein Fremder, an dessen Gesicht er sich dunkel erinnerte, und der Dritte im Bunde war der sattsam bekannte Gordon Bray. Als sie aufschauten, sahen sie, wie er sie anstarrte.
Seine Schwester fing seinen Blick auf.
»Du scheinst einen ziemlich aufregenden Tag gehabt zu haben, Hermann«, meinte sie mit ihrem süßesten Lächeln.
Kapitel 22
Hermann traf Leete in seinem Klub und erklärte den Scherz. Es war nicht so ganz einfach; und es dauerte ziemlich lange, bis Leete die »Zehn-Schritt-vom-Leibe«-Schranke, die er im Augenblick einer eingebildeten Gefahr aufgerichtet hatte, fallenließ.
»Sie sollten sich überhaupt nicht mit solchen Dingen
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