0042 - Der Totenbeschwörer
knochenharten Stellen bildeten Stolperfallen. Jill mußte achtgeben, daß sie nicht umknickte und sich noch einen Knöchel verstauchte.
Wie ein Geist schritt sie zwischen den Grabreihen hindurch. Trockenes Laub und knorrige Zweige knackten unter ihren Schuhen. Sie schüttelte den Kopf, um die langen Haare aus der Stirn zu schleudern, die mit ihren Fransen fast die Augen verdeckten.
Der alte Hanson war auf dem neuen Teil des Friedhofs beerdigt worden. Breite Kieswege verbanden ihn mit der Leichenhalle, damit Trauergäste sich keine schlammigen Schuhe holten, wenn es mal regnete. Es sei denn, sie standen dicht am Grab.
Auf diesem Teil des Totenackers glänzten die Grabsteine noch wie frischpoliert, stachen die hellen Kreuze von der schmutzigbraunen Erde ab. Hier wurden die Gräber gepflegt und im Herbst mit Tannenzweigen bedeckt.
Dann zog auch ein anderer Geruch über den Friedhof. Im Winter roch es nur nach Moder, Verwesung und faulendem Laub. Eben ein typischer Friedhofsgeruch. Er machte dem Mädchen jedoch nichts aus. Jill empfand ihn als Balsam. Sie überquerte den Hauptweg, schritt dann auf einen schmalen Pfad und ging zwischen einer Reihe neu angelegter Gräber weiter.
Kreuz stand neben Kreuz. Kein Stein zierte die Gräber. Zum Teil waren sie durch eine festgefrorene Schneekappe verhüllt.
Weiter vorn begann das Gelände, wo die frischen Gräber ausgehoben wurden.
Und dort lag ihr Großvater.
Es waren schon wieder einige Gräber dazugekommen.
Das Grab ihres Großvaters war das viertletzte in der linken Reihe. Es sah nicht anders aus als die anderen, und doch barg es ein schreckliches Geheimnis.
Ein Geheimnis, das bald gelüftet werden sollte.
Sekundenlang blieb Jill Hanson vor dem Grab stehen. Plötzlich klopfte ihr Herz oben im Hals. Jetzt fragte sie sich, ob sie alles richtig gemacht hatte, doch die Stimme, die plötzlich in ihre Gedanken drang, zerstörte die Bedenken.
»Ich freue mich, daß du gekommen bist, Jill. Warte noch ein wenig, dann bin ich auch bereit.«
»Ja«, flüsterte Jill. Sie sprach mit sich selbst, und glaubte nicht, daß der Großvater sie hören konnte.
Stumm starrte sie auf das Grab. Der Wind erfaßte ihr blondes Haar und schüttelte es durch. Ganz in der Nähe flatterten zwei Nachtvögel erschreckt von ihren Schlafplätzen hoch und verschwanden in der Dunkelheit.
Auf der Leichenhalle knarrte die Wetterfahne. Irgendwo raschelte es. Ein Stück Holz schlug rhythmisch gegen einen Stein. Sonst war es still.
Mitternacht!
Geisterstunde – Tageswende.
Die graue Zeit der Dämonen. Startpunkt für alles Unheil, für Leid, Schrecken und Tränen.
Es war die Stunde der Nachtgeschöpfe.
Jill Hanson hielt den Atem an. Sie spürte, daß gleich etwas geschah, ja, einfach geschehen mußte. Noch immer starrte sie auf das Grab. Der Schnee war völlig weggetaut und gab die braune Erde frei.
Erde, die sich bewegte. Erst aufgeworfen wurde und dann wieder zusammenfiel.
Jemand arbeitete unter der Erdoberfläche.
Der Tote?
Unvorstellbar, grauenhaft. Jill lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie krampfte ihre Hände zusammen, der Atem ging jetzt stoßweise, wurde als Dampfwolke von ihren Lippen geweht.
Die Erde bewegte sich wieder. Kein Frost konnte dem Druck standhalten. Was aus dem Grab herauswollte, das mußte heraus, da gab es kein Halten und kein Hindernis.
Heftiger wurde die Erde bewegt. Es war schon dicht unter der Oberfläche, drückte weiter – erschien.
Finger!
Von einer bleichen Totenhaut überzogen, mit Dreckkrumen unter den langen spitzen Nägeln. Haut, die wie weißes Pergament wirkte und fast durchsichtig war.
Jill Hanson versteifte sich.
Sie starrte auf die Hand, sah das Schreckliche mit eigenen Augen und wurde innerlich von der Angst aufgewühlt. Da packte die Hand zu.
Blitzschnell umklammerte sie Jill Hansons Fußknöchel!
***
Über fünfhundert Jahre sollte die alte Linde schon zählen. Ihr gewaltiger Stamm und die knorrigen Äste hatten bereits manchen Sturm überstanden, hatte den Unbilden der Natur getrotzt und sich auch nicht von Menschenhand zerstören lassen.
Die Linde war der Mittelpunkt des Friedhofes. Schon manchen hatte sie Schutz geboten. Vor Regen, Sturm und Hagel. Zahlreiche Legenden rankten sich um den Baum, Tatsache war aber, daß man ihn unter Naturschutz gestellt hatte.
Auch in dieser kalten Nacht bot die Linde jemanden Schutz vor neugierigen Blicken. Es war eine relativ kleine Gestalt, eingehüllt in einen langen Mantel, der eine
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