0042 - Der Totenbeschwörer
ersten Stock. Auf Zehenspitzen schlich sie über den Flur der Treppe zu, die nach unten führte.
Sie passierte dabei die Türen, hinter denen die Schlafzimmer ihrer Geschwister und Eltern lagen.
Sie verschwendete nicht einen Gedanken mehr an ihre nächsten Verwandten. Sie waren ihr auf einmal so gleichgültig geworden wie auch die anderen Dinge in ihrem Leben.
Für sie zählte nur noch der Lockruf.
Jill schritt die Stufen hinab. Sie ging am Rand, damit das alte Holz nicht zu sehr knarrte. Bis auf das Summen der Heizung war es im Haus ruhig.
Das Mädchen schritt nicht zur Vordertür, sondern ging in Richtung Keller, wo der Hinterausgang lag. Diese Tür war meistens nicht abgeschlossen, und auch in dieser Nacht stand sie offen. Dafür hatte Jill gesorgt.
Vorsichtig öffnete sie die Tür. Als der Spalt groß genug war, schlüpfte sie hindurch.
Schnee lag auf dem Hof. Nur ein schmaler Pfad war geräumt worden. Dafür türmte sich die weiße Pracht an der Hauswand hoch.
Jill schritt durch den kleinen Garten, balancierte über die festgefrorene Ackerfurchen und erreichte den hüfthohen Zaun, der das ziemlich große Grundstück einrahmte.
Rechts von ihr streckten die mit einer weißen Schicht bedeckten Obstbäume ihre Äste in den Nachthimmel. Sie wirkten manchmal wie die gespenstische Vision eines Malers.
Ein Wetterumschwung lag in der Luft. Die noch vorhandene Kälte drückte den Nebel zu Boden. Er war nur stellenweise vorhanden, und als Jill hindurchschritt, da sah es so aus, als würde sie über der Erde schweben.
Sie kletterte über den Zaun und schlug den Weg zum Friedhof ein.
Die Straße führte nicht am Totenacker vorbei und auch nicht am Haus der Hansons. Sie beschrieb einen Bogen und tangierte die Nordseite des Friedhofs. Jill mußte über freies Feld laufen.
Das störte sie nicht. Sie hatte nur ein Ziel vor Augen, das sie unbedingt erreichen wollte.
Schneeinseln bedeckten den welligen Boden. Zum Teil war der Schnee getaut, doch der, der noch lag, trug eine Eisschicht auf der Oberfläche.
Der kühle Nordwestwind blies Jill ins Gesicht. Am Himmel trieben dicke Schneewolken auf die Küste zu.
Jill Hanson schritt über verfaultes Gras, trat in schmale Ackerfurchen und lief einige Meter parallel zu einem rostigen Stacheldrahtzaun, den ein Bauer gezogen hatte, bevor er sein Grundstück an den zuständigen Kreis verkaufte.
Das Feld sollte in einigen Jahren ebenfalls ein Friedhof werden. Die entsprechenden Pläne lagen bereit.
Das Haus blieb immer mehr zurück. Es verschwamm in der kalten Nebelsuppe. Jill Hanson verließ ein Stück Heimat, um einem Ungewissen Schicksal entgegenzugehen.
Der Mantel hielt die Kälte ab. Der hochgestellte Kragen schützte Hals und Ohren.
Eine Mauer begrenzte den Friedhof. Allerdings nur an der Nordseite. Gegenüber, wo er erweitert werden sollte, hatte man die Mauer bereits abgerissen, so daß jedermann das Gelände ungehindert betreten konnte.
Jill ging den Weg nicht zum erstenmal. Schon öfter hatte sie das Grab ihres Großvaters besucht und es mit frischen Blumen geschmückt. Sie hing sehr an dem alten Mann. Auch heute noch.
Ein plötzlicher Windstoß blähte den vorn nicht geschlossenen Mantel auf und ließ Jill Hanson aussehen wie eine große Fledermaus. Sie steckte ihre Hände in die Taschen und drückte den Mantel wieder zu.
Die Grasnarbe des Bodens verschwand. Jill schritt jetzt durch die tiefen Spuren, die noch von den Lastwagen des Abbruchunternehmens stammten. In manchen Kuhlen hatte sich Wasser gesammelt. Eine dünne Eisschicht bedeckte die Oberfläche, und sie knirschte, als Jill darüberschritt.
Trotz der Dunkelheit konnte sie bereits die ersten Grabsteine und Kreuze erkennen.
Die Zeugen der Vergänglichkeit standen auf dem alten Teil des Friedhofs. Kantige, schmucklose Steine, auf denen der Name des Verstorbenen eingemeißelt worden war. Auch die ehemals stolzen Holzkreuze hatte der Zahn der Zeit angefressen und sie ihm Laufe der Jahre weich und brüchig werden lassen.
Es gab schmale Wege, die sich hin und wieder kreuzten und zu den einzelnen Gräbern führten. Blattlose Bäume breiteten ihre knorrigen Äste aus, als wollten sie die Gräber der Toten beschützen.
Der Nachtwind strich durch Hecken und Buschinseln. Er bewegte auch die alte Wetterfahne auf dem Leichenhaus, so daß sie einen Laut abgab, der an das gequälte Atmen einer gepeinigten Kreatur erinnerte.
Übergangslos erreichte Jill Hanson den Friedhof. Auch hier war die Erde gefroren. Die
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