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0042 - Herr der wilden Wasser

0042 - Herr der wilden Wasser

Titel: 0042 - Herr der wilden Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Wiemer
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Unverständliches – dann meldete sich eine andere, ebenfalls leicht gutturale Stimme.
    »Mein Name ist Stein Hallgrimmsson. Kann ich Ihnen helfen?«
    Er sprach leidlich Englisch. Zamorra nannte seinen Namen, fragte nach Charles Maruth – und registrierte, dass der Teilnehmer am anderen Ende scharf die Luft durch die Zähne zog.
    »Sie sind ein Angehöriger von Mister Maruth?«, fragte der Isländer.
    »Nein, aber es ist trotzdem wichtig, dass ich mit ihm spreche. Darf ich fragen…«
    »Polizei«, sagte Stein Hallgrimmsson knapp. »Ich bin mit der Aufklärung der Morde beauftragt. Hat Sie das englische Konsulat benachrichtigt oder…«
    Den Rest hörte Zamorra nicht mehr.
    Ihm war, als habe man ihn ins Gesicht geschlagen. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen die Rippen.
    »Morde?«, echote er tonlos.
    »Allerdings. Man hat Sie also nicht benachrichtigt? Nun ja – es sind ja auch erst wenige Stunden vergangen, seit die Leichen gefunden wurden. Außerdem sagten Sie wohl eben, dass Sie nicht mit Mr. Maruth und Miss Niles verwandt sind. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
    »Wie ist es passiert?«, fragte der Professor heiser.
    »Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Sie müssen verstehen – ich habe meine Vorschriften. Aber ich würde Ihnen empfehlen, sich an das britische Konsulat in Reykjavik zu wenden.«
    »Danke«, murmelte Zamorra.
    Sein Gesicht war blass und kantig, als er den Hörer auf die Gabel sinken ließ. Einen Moment lang sah er ins Leere – dann atmete er tief durch und wandte sich Nicole und Bill zu, aus deren Gesichtern ebenfalls alle Farbe gewichen war.
    »Charles Maruth und Patricia Niles sind tot«, sagte der Professor hart. »Nicole, wir werden die nächste Maschine nach Island nehmen…«
    ***
    Mit dem ersten Licht lenkte Jon Hafnar den leichten Fischkutter an den Klippen vorbei.
    Der bärtige, groß gewachsene Fischer spähte hinauf zu der schwarzen Basaltwand. Unheimlich und drohend ragte die Klippe auf, ihr scharfer, gezackter Rand schnitt in den wolkenverhangenen Nachthimmel. Jon Hafnars schwielige Fäuste wirbelten das Steuerrad, er dachte an das Feuer, das zu Hause im Kamin prasselte, an einen langen Schluck Whisky und an das Hammelragout, mit dem Signe, seine Frau, ihn empfangen würde.
    Warum, zum Teufel, musste er nur jedes Mal an der Klippe vorbei, wenn er kurz vor der Morgendämmerung mit dem Fang heimkehrte! Jon fluchte in sich hinein. Seit Jahrhunderten waren alle Hafnars und Hafnarssons am Eyja-Fjord ansässig. Sie wurden dort geboren, lebten dort und starben dort. Oder nein: Die Jungen nicht, die gingen ins Spital, um ihre Kinder zu bekommen, und sie würden eines Tages auch ins Spital gehen, um zu sterben. Jon war auf Hafnarholm geboren, sein Sohn und seine beiden Töchter waren dort zur Welt gekommen, er konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders als in dem uralten steinernen Langhaus zu sterben. Dort oder auf See! Genau wie sein Vater draußen geblieben war, sein Großvater und…
    Jäh stockten seine Gedanken.
    Immer noch hing sein Blick am schwarzen Rand der Klippe – und jetzt sah er die Gestalt, die sich wie ein Schattenriss vom heller werdenden Himmel abhob. Ein wallender Mantel flatterte im Wind. Der weiße Bart wehte, das lang herabfallende Haar. In der Rechten hielt der Alte einen Stab, auf den er sich stützte, und er stand dort oben, als blicke er weit über das Meer hinweg in die Unendlichkeit. Jon Hafnar erstarrte.
    Sein Herz hämmerte, seine Hände umklammerten das Steuerrad so fest, dass die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Aus aufgerissenen Augen starrte er zu der Erscheinung hinauf, die reglos wie eine Statue verharrte.
    Der Alte, dachte er. Der Alte vom Meer…
    Er war da, war zurückgekommen. Vor hundert Jahren war er zuletzt gesehen worden, war über die Insel gewandert und hatte Menschen mit seinem stummen, bösen Blick den Tod verkündet. Tausend Jahre war er alt, und immer wieder kam er zurück aus seinem Reich. Zehnmal hundert Jahre sollten vergehen, hieß es. Und wenn der Alte vom Meer zum zehnten Mal wiederkam, dann würde er die Menschen hinwegfegen, die neue Zeit auslöschen und dieses Land aus Feuer und Eis wieder zu einer Heimat der alten Götter machen…
    Jon Hafnar spürte, dass er zitterte.
    Rasch keilte er das Steuer fest, stieß die Tür der Brücke auf und trat in den Wind hinaus. Gischt spritzte, benetzte kühl seine heiße Haut, und der vertraute Geruch nach Salz, Tang und der glitzernden Fischfracht

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