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0042 - Herr der wilden Wasser

0042 - Herr der wilden Wasser

Titel: 0042 - Herr der wilden Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Wiemer
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hüllte ihn ein.
    »Kyrre!«, rief er – gerade so laut, um den Seegang zu übertönen.
    »Kyrre, wo steckst du?«
    Sein Sohn stand an der Achterreling und sah aufs Meer hinaus – ein großer, hellhäutiger Isländer mit braunem Haar und Augen, die so grau waren wie das Meer am frühen Morgen. Jetzt wandte er sich um und kam über die knirschenden Planken, das Gesicht vom Wind gerötet und ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
    »Das war eine gute Nacht«, meinte er. »Ich glaube…«
    Sein Vater packte ihn am Arm. Mit der freien Hand deutete er zur Klippe hinauf, und seine Stimme senkte sich zum rauen Flüstern.
    »Da oben! Der Alte vom Meer! Sieh doch…«
    Kyrre Hafnar kniff die Augen zusammen.
    Einen Moment lang musterte er die Gestalt dort oben, dann lachte er. In seinen Augenwinkeln erschienen winzige Fältchen.
    »Der Alte vom Meer«, spottete er. »Himmel, Vater – wann wirst du endlich aufhören mit diesen Spukgeschichten!«
    »Es ist die Wahrheit.« Jon presste die Lippen zusammen, seine Stimme war rau vor Erregung. »Mein Großvater hat noch erlebt, wie er das letzte Mal kam, vor hundert Jahren. Es ist der Alte vom Meer, glaub mir! Siehst du nicht den weißen Bart? Den Mantel? Den Stab?«
    »Unsinn«, sagte Kyrre. »Ein Schäfer wird es sein. Oder irgendein Verrückter, der alten Weibern Angst machen will. Vater – du glaubst das doch nicht wirklich, oder?«
    Jon antwortete nicht. Für einen Moment hatte er das Gefühl, als ob ihm der Alte dort oben direkt in die Augen sehe. Es war ein starrer, hypnotischer Blick, ein Blick, der über einen Abgrund von Raum und Zeit hinweg tief in ihn eindrang. Ganz langsam hob der Weißbärtige den Stab empor, die Spitze wies weit hinaus auf das Wasser – aber es waren nicht die kalten Fluten des Nordmeers, denen er gebot.
    Unter ihm lösten sich Schatten aus dem Schutz überhängender Felsen.
    Schwingen entfalteten sich, flatterten träge auf und nieder, ließen sich vom Wind tragen wie die bunten Papierdrachen der Kinder.
    Für einen Moment glaubte Jon Hafnar tatsächlich, bemalte Windvögel vor sich zu haben. Aber dann sah er die grotesken Leiber, die schwerfälligen Bewegungen, hörte die rauen, hungrigen Schreie und spürte, wie sich die Angst um seine Brust legte gleich einem erstickenden Ring aus Eisen.
    Neben ihm war sein Sohn förmlich versteinert. Kyrres Augen flackerten, sein Gesicht verzerrte sich.
    »Vater!«, stieß er hervor. »Um Himmels willen, Vater! Was ist das?«
    »Ich weiß nicht«, murmelte Jon Hafnar. »Ich weiß es nicht…«
    »Aber das gibt es doch nicht! Das sind ja Bestien! Vater! Sie greifen uns an, sie…«
    Seine Stimme brach.
    Keuchend starrte er in den heller werdenden Himmel. Kyrre Hafnar zitterte jetzt am ganzen Leib – und auch Jon erkannte, dass die grässlichen Fabeltiere angriffen und sich gleich einer unheilvollen schwarzen Wolke auf den Kutter herabsenkten.
    Der alte Fischer schloss die Augen.
    Eine uralte Prophezeiung hatte seinen Untergang vorausgesagt, die Zeit war erfüllt. Der Alte vom Meer ging über die Insel, diesmal hatte er seine Geschöpfe gerufen, damit sie ihm halfen bei seinem Vernichtungswerk, und John Hafnar wusste, dass er seine Frau und seine Töchter nie wiedersehen würde.
    Nicht mehr lange, dann war die Uhr der Menschen in diesem Lande abgelaufen, und die alten Götter konnten wieder ihre Herrschaft antreten…
    ***
    Die Maschine der isländischen »Loftleidir« landete früh am Morgen in Reykjavik.
    Die Stewardess hatte behauptet, das Wetter auf der Insel sei gut, aber das erwies sich als Übertreibung. Wolkenfetzen wehten über den Himmel, ein scharfer Wind ging, das Licht wirkte hell und hart.
    Immerhin regnete es nicht, es war nicht einmal so kalt, wie man es am nördlichen Polarkreis hätte erwarten können, und lediglich Nicole Duval fröstelte ein wenig in ihrer auf den Pariser September berechneten Strickkombination.
    Auch Bill Fleming war mitgekommen – der Gedanke, dass Charles Maruth und seine Verlobte einem brutalen Mord zum Opfer gefallen waren, ließ ihm genauso wenig Ruhe wie seinem Freund. Nur dass Zamorra fest davon überzeugt war, dass noch etwas anderes als ein normaler Mord hinter den Ereignissen steckte. Das Medium hatte von einem »Alten vom Meer« gesprochen und von einer zerbrochenen Zeitschranke. Während der wenigen Stunden, die bis zum Start der Maschine geblieben waren, hatte der Professor so intensiv wie möglich nach alten Legenden und Überlieferungen geforscht – aber

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