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0043 - Die Geister-Lady

0043 - Die Geister-Lady

Titel: 0043 - Die Geister-Lady Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.F. Morland
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schwer verletzt war, gab er nicht auf. Seine gefährlichen Kiefer klappten hart aufeinander, als er seine Schnauze nach Semjons Arm stieß, diesen aber verfehlte.
    Atemlos kämpfte der Junge um sein bedrohtes Leben. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nicht so sehr gefürchtet wie an diesem Tag. Trotz des Messers dachte er, der Bestie zu unterliegen. Er kämpfte verbissen um den Sieg, ums nackte Überleben. Als er es dann geschafft hatte, wollte er es nicht glauben. Es gab keinen Frost mehr für ihn. Siedendheiß war ihm. Er hätte sich alles, was er hatte, vom Leib reißen können, und ihm wäre immer noch nicht kalt gewesen. Sein aufgepeitschtes Blut brodelte durch seine Adern. Sein Herz hämmerte wie verrückt gegen die Rippen. Benommen starrte er auf den Tierkadaver, der vor seinen zitternden Füßen lag. Der Tod, dachte er. Das ist der Tod im silbergrauen Fell.
    Er legte seine Hand auf den Schädel des Tieres, und es erfüllte ihn mit einem ungeahnten Triumph, diesen Kampf auf Leben und Tod für sich entschieden zu haben. Nein, die Taiga war nicht gegen ihn.
    Sie war für ihn. Sie ernährte ihn und bot ihm die Gelegenheit, sich in ihr zu verstecken…
    Später, in der Hütte, verzehrte er das Fleisch des Wolfs, das er über einem kleinen Feuer gebraten hatte. Er aß von seinem erbittertsten Feind. Das Fleisch war nicht besonders gut. Aber Semjon aß es trotzdem. Es schien, als wollte er sich damit den Mut und die Gefährlichkeit des getöteten Tieres aneignen…
    Als er gesättigt war, wickelte er sich wieder in seine Decke. Er dachte an Jessica – und sein Herz krampfte sich in Wehmut zusammen. Was war aus seinem Leben geworden. Was hatte er noch zu erwarten? Er war auf der Flucht vor dem KGB. Irgendwann würden sie ihn erwischen. Sie erwischten fast jeden. Er konnte nicht bis an sein Lebensende in der Taiga bleiben.
    Und Jessica? Wie würde es mit ihr weitergehen? Sie hatte geweint, als sie abgereist war, und sie hatte ihm versprochen, auf ihn zu warten. Wie lange würde sie wirklich warten? Zwei Jahre? Vier? Zehn?
    Und dann? Semjon legte verzweifelt die Hände auf sein Gesicht und stöhnte schwer. Er war allein. Ohne jede Hilfe. Es konnte ihm niemals gelingen, aus diesem Land, das er – seit er Jessica kennen gelernt hatte – wie nichts sonst auf der Welt hasste, rauszukommen.
    Dieses Land würde sich schon sehr bald gegen ihn wenden und ihn vernichten. Zwanzig Jahre Zwangsarbeit… Das zerbricht jeden Mann. Sogar den jüngsten und kräftigsten!
    Plötzlich Rufe.
    Dann Hundegebell. Entsetzt federte Semjon Muratow hoch. Seine Augen irrlichterten umher. Er keuchte aus der Hütte. Zwischen den Bäumen tauchten mehrere Jäger auf. Sie waren in dicke Felljacken eingehüllt. Noch hatten sie ihn nicht entdeckt. In größter Eile lief Semjon hinter die Hütte, und dann begann er ziellos in die Tiefe des Waldes hineinzurennen. Eine wahnsinnige Angst, entdeckt zu werden, krallte sich in seinen Nacken und trieb ihn weiter, immer weiter.
    Er rannte so lange, bis ihn seine Kräfte verließen.
    Dann fiel er einfach um und blieb schluchzend liegen.
    Ein Gejagter. Das war er und das würde er für alle Zeiten bleiben…
    ***
    Die Hände auf dem Rücken, immer wieder auf den Zehenspitzen wippend, stand Oberst Kyrill Vitali vor der großen Wandkarte von Sibirien, die in seinem Moskauer KGB-Büro an der Wand hing. Er war ein Mann, dessen Gefühlskälte aus seinen Augen strömte. Er hatte granitharte Züge und einen bleistiftstrichdünnen Mund. Einer seiner Untergebenen stand vor seinem Schreibtisch. Der Mann trug eine billige Nickelbrille und einen zerknitterten Anzug. Von ihm war Vitali soeben über den Fall Semjon Muratow ausführlich informiert worden. Der Tenor des Berichts: Muratow war immer noch flüchtig. Jene KGB-Leute, die den Auftrag gehabt hatten, den Jungen festzunehmen, sahen sich außerstande, diesen Befehl auszuführen.
    »Idioten!«, knurrte Oberst Vitali ganz hinten in der Kehle, während er den Plan von Sibirien auf sich einwirken ließ. »Alles Idioten! Können keinen verliebten Jungen einfangen. Lassen ihn wegrennen! Wie sind die bloß zum KGB gekommen?«
    Der Mann mit der Nickelbrille wusste, dass Vitali darauf keine Antwort wollte. Deshalb zuckte er bloß mit der Schulter und hielt den Mund.
    Der Oberst betrachtete das Uralgebirge. Ural – das Wort kommt aus dem Tatarischen und heißt Gürtel. Und hier beginnt Sibirien, hinter diesem Gürtel.
    Sibirien – eine frosterstarrende Hölle. Man

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