0043 - Die Geister-Lady
Augen brummig an Milda. »Habt ihr beide die weiße Frau schon einmal gesehen, he? Ich bin sicher, das habt ihr nicht. Aber ihr redet, als ob ihr mit ihr verwandt wäret.«
»Sie spukt dort draußen!«, beharrte Oleg.
»Sag deinem Mann, er soll endlich den Mund halten!« knurrte Tichon. »Sag ihm, er soll mich nicht reizen, Milda! Ich bin bei Gott ein gutmütiger Mensch…«
»Pah… Ein gutmütiger Mensch!«, spottete Oleg.
»Etwa nicht?«
»Willst du unbedingt, dass Oleg dich wieder verprügelt?«, fragte nun Valentina ärgerlich ihren Mann. Sie hatte schmale Hüften und einen kleinen Busen.
»Oleg?«, schrie Sellnow lachend auf. »Mich verprügeln? Mich?«
»Es wäre nicht das erste Mal!«
»Was ist denn nur heute mit euch?«, schrie Sellnow. »Alle hackt ihr auf mich los! Ich habe keinem von euch etwas getan! Ich habe lediglich gesagt, dass es Blödsinn ist, was Oleg von diesem komischen Spuk erzählt. Dabei bleibe ich! Und wenn ihr euch alle auf den Kopf stellt. Es gibt keine Gespenster! Nicht bei uns in Sibirien. Und wenn ihr es trotzdem behauptet, dann seid ihr verrückt!«
Es ging noch eine Weile so hin und her. Die Funken, die durch die Luft flogen, fielen zum Glück immer neben das Pulverfass. Die Männer tranken mehr vom grusinischen Wein, und da sich ihre Frauen ärgerten, hielten sie tüchtig mit. Und schließlich verlangte Tichon Sellnow einen Beweis für Oleg Dagorskis Behauptung. Es hieß, dass die weiße Frau sich bei Vollmond um Mitternacht zeigte.
Nun. Es war Vollmond. Und es war kurz vor Mitternacht. Also – worauf noch warten.
Milda Dagorskaja wollte jedoch nichts von einem solchen nächtlichen Ausflug wissen. Und auch Valentina Sellnowa fröstelte allein schon bei dem Gedanken, um diese Zeit aus dem Haus zu gehen, weil die beiden Männer die weiße Frau spuken sehen wollten.
Milda sagte: »Es heißt, dass jemand, der die weiße Frau sieht, sein ganzes Leben lang kein Glück mehr hat. Er wird vom Pech verfolgt. Krankheiten und Unfälle drohen ihm… Haltet mich für abergläubisch und furchtsam, das stört mich nicht. Aber ich will die weiße Frau nicht sehen. Ich habe Angst vor ihr.«
Tichon Sellnow grinste. »Erstens gibt es sie gar nicht. Und zweitens kann uns ihr Anblick – sollte es sie, was ich nie und nimmer glaube, doch geben – niemals schaden, Milda. Du gehst doch nicht allein dorthin. Dein Mann und ich werden dich beschützen. Es kann dir nichts geschehen. Mach doch mit bei dem Blödsinn. Es ist ein Spaß. Wir ziehen los, sehen uns den Torpfeiler an, warten, es wird nichts passieren, und wir kehren eine halbe Stunde später wieder nach Hause zurück.«
Die Männer brachten ihre Frauen schließlich so weit, dass sie mit ihnen gingen. Grölend, lachend und scherzend zogen sie durch einen kleinen Wald. Von weitem schon sahen sie die hohe Mauer, die das Plotkinsche Anwesen einfriedete. Die Mauer schien auf eine seltsame Weise zu fluoreszieren. Milda und Valentina blieben hinter ihren Männern ängstlich zurück. Sie reichten sich die Hände, um sich ein wenig Mut zu machen. Oleg und Tichon marschierten singend voran. Hin und wieder stolperten sie über Wurzeln. Sie wankten und schwankten. Der schwere grusinische Wein versuchte sie mehrmals umzuwerfen, doch sie richteten sich aneinander wieder auf. Der helle Vollmond warf ihnen ihre eigenen Schatten vor die Füße. Sie erreichten das rostzerfressene Gittertor.
»Welcher Pfeiler ist es?«, fragte Tichon, der die Geschichte schon wieder teilweise verschwitzt hatte.
»Der da!«, sagte Oleg. Mit einemmal verflog seine Heiterkeit. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Angst? Vielleicht. Er vermochte es in seinem Rausch nicht so genau zu erkennen. Hinter ihnen standen ihre jungen Frauen. Sie umarmten sich zitternd und lauschten ängstlich in die Nacht hinein.
Tichon Sellnow stand breitbeinig vor dem Torpfeiler. Er schwankte vor und zurück, grinste dämlich und erwartete nichts. Oleg zog den Hals ein. Obwohl er warm angezogen war, fror ihn erbärmlich.
Zum Unterschied von Sellnow befürchtete er etwas Schauriges. Er hörte seinen schnellen Atem, der ihm wie eine Nebelfahne aus dem Mund flog und sofort zerfaserte. Er vernahm ein gespenstisches Rauschen von Blättern, so, als würde jemand durch das nahe Gebüsch jenseits der Mauer schleichen. Nur Tichon Sellnow hatte keine Angst. Der Wein machte aus ihm einen grinsenden Narren.
»Nun, Brüderchen?«, sagte er feixend. Und er stieß den Freund mit dem Ellenbogen an. »Wo ist
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