0043 - Die Geister-Lady
deine weiße Frau, he? Ich kann sie nicht sehen, nicht hören, nicht riechen.«
»Und fühlen?«, fragte Oleg mit furchtgeweiteten Augen.
Tichon schüttelte den schmalen Kopf. »Ich fühle nur den Rausch in meinem Schädel.«
»So besoffen bist du? Dass du ihre Nähe nicht spürst?«
Tichon brummte unwillig. »Wie soll ich etwas spüren, das nicht vorhanden ist, Brüderchen? Kannst du mir das erklären?«
Ein Seufzer. Tief und geisterhaft. Keiner von den vier Menschen hatte ihn ausgestoßen. Und doch hatten sie ihn alle ganz deutlich vernommen. Sogar Tichon Sellnow hatte ihn gehört.
Olegs Kopf ruckte zu ihm herum. Seine Augen flatterten. »Nun?«, ächzte er aufgeregt. »Was sagst du jetzt? Hast du das Seufzen gehört? Du musst es gehört haben. Wir alle haben es gehört.«
»Ich sag’ ja nicht, dass ich es nicht gehört habe!«, gab Tichon Sellnow ärgerlich zurück.
»Das war sie«, stieß Oleg Dagorski nervös hervor. Er schaute sich ängstlich um. Seine fiebrigen Augen wollten überall ein Gespenst sehen. Mehrmals war ihm, als streckte jemand aus einem der Büsche eine weiße Totenhand heraus und winkte ihn zu sich. Er hielt gebannt den Atem an. Sein unruhiger Blick wanderte zum Torpfosten zurück. Grau und unansehnlich war er im Laufe der Zeit geworden.
An vielen Stellen gab es tiefe schwarze Risse. Und aus diesen schien der gruselige Seufzer vorhin gekommen zu sein. Oleg Dagorski hätte gern vorgeschlagen, nach Hause zu gehen, aber er wollte nicht als Feigling dastehen. Tichon hätte ihn deswegen jahrelang ausgelacht.
Deshalb blieb er, obwohl er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte.
Insgeheim hoffte er, dass die Frauen den Vorschlag machen würden, der in seinem Hals steckte und ihn furchtbar würgte. Doch die Frauen hatten Angst, den Mund aufzumachen. Sie standen hinter ihren Männern, starrten den hässlichen alten Pfeiler an und waren nicht fähig, irgendetwas zu tun oder zu sagen.
Oleg spürte als Erster, dass die weiße Frau ihr Erscheinen ankündigte. Obwohl er genauso betrunken war wie Tichon, fühlte er ein leises Beben unter seinen Füßen. Durch seine pelzgefütterten Stiefel kroch ihm die Kälte in die Knochen. Er wollte sich umdrehen, doch etwas zwang ihn, den Pfeiler anzuglotzen. Ein Lichtschein sickerte daraus hervor. Erst nur zu vermuten. Dann intensiver. Und plötzlich leuchtete vor ihren entsetzt aufgerissenen Augen der schneeweiße Körper einer Frau auf. Mit einem bestürzten Schrei wichen die Männer zurück. Anja Plotkinowa flog ihnen wütend entgegen, weil sie ihre Ruhe gestört hatten. Sie kreischte und tobte über ihren Köpfen, dass ihnen die Haare zu Berge standen. Sie entfachte einen Sturm, der die Blätter von den Büschen riss und sogar einen Baum entwurzelte.
Da verließ Oleg und Tichon ihr Wagemut.
Sie stürzten sich keuchend auf ihre Frauen, packten die Verdatterten an der Hand und rissen sie, Hals über Kopf davonrennend, mit sich. Hinter ihnen stieß das Gespenst wüste Flüche und hässliche Schimpfworte aus. Mit rot glühenden Augen verfolgte Anja die panikartige Flucht der beiden Ehepaare. Sie schrie ihnen zornige Verwünschungen nach und schleuderte zu guter Letzt das Versprechen hinter ihnen her, dafür zu sorgen, dass sie fortan nur noch Pech haben würden…
***
Am nächsten Tag traf Oberst Kyrill Vitali in Nowosibirsk ein. Er ließ sofort die beiden KGB-Leute zu sich ins Hotel kommen, um sie mit gebrüllten Vorwürfen gründlich zur Schnecke zu machen. Er bot ihnen nicht die Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Das war seine Taktik, mit der er überall großen Erfolg hatte. Als er mit seinem Wutausbruch fertig war, gestattete er ihnen, ihm auf seine Fragen ohne viele Ausflüchte klar und deutlich zu antworten. So erfuhr Vitali, dass sich Semjon Muratow irgendwo in der nahen Taiga versteckt halte. Eine Gruppe von Jägern habe in einer verfallenen Köhlerhütte Spuren entdeckt, die von Semjon stammen konnten. Mit einem Wolgawagen ließ sich Vitali so nahe wie möglich an den Wald heranbringen. Dann mussten die beiden KGB-Männer mit ihm zu jener Hütte gehen. Der Oberst sah sich da eine volle Stunde lang um. Darum war er davon überzeugt, dass sich in dieser Hütte jener Mann aufgehalten hatte, hinter dem er her war. Er befahl den Leuten, jeden Tag zur Hütte zu gehen und nachzusehen, ob Semjon Muratow hierher zurückgekehrt sei.
Grinsend meinte er: »Wenn er auch nur für einen Rubel Hirn im Schädel hat, kommt er nicht mehr hierher zurück…
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