0043 - Die Geister-Lady
die Nähe des Hauses kam, wurde sein Schritt langsamer. Schließlich blieb er stehen. Mit bleichen Zügen starrte er das Gebäude an. Und als der Wind jenes geisterhafte Heulen erzeugte, da nahm der Kerl die Beine in die Hand und rannte um sein Leben.
Vorsichtig kroch Semjon aus dem Straßengraben, als der Mann verschwunden war. Der würde nun gewiss im Kreise seiner Bekannten und Verwandten erzählen, was für ein schauriges Geheul aus dem Spukhaus gekommen war, vielleicht würde er hinzufügen, was er alles gesehen hatte. Der Phantasie waren in einem solchen Fall ja keine Grenzen gesetzt.
Das richtige Haus für Semjon.
Er massierte seine steif gefrorenen Glieder. Noch einmal schaute er sich um. Dann lief er auf das Haus zu. Er fand ein Fenster, das in den Keller hinunterführte und von außen leicht aufzudrücken war.
Schnell glitt er in die tiefe Dunkelheit hinab. Da er mit den Örtlichkeiten nicht vertraut war, stieß er sich mehrmals den Kopf an. Vorsichtig schlich er die Kellertreppe hoch. Er rechnete zwar nicht damit, dass sich jemand im Haus befand, aber er war seit Tagen auf der Flucht, und er hatte sich vorgenommen, auch dann vorsichtig zu sein, wenn es nicht notwendig war. Lieber einmal mehr…
In einem Kühlschrank fand er reichlich zu essen. Dann schlich er zum Schlafzimmer hinauf und legte sich – nach vielen Tagen zum ersten Mal wieder – in ein wohlig weiches, warmes Bett. Fast augenblicklich schlief er ein. Er vergaß seine Angst. Er vergaß seine Flucht.
Und er vergaß vorübergehend Jessica Martin, die er liebte, wie jemand anders die Sonne liebt. Die Sonne, die genauso unerreichbar ist, wie es für Semjon Muratow Jessica Martin war…
***
Seit Milda Dagorskajas Tod flatterten Valentina Sellnowas Nerven ununterbrochen. Sie schluckte Tabletten, sie trank Schnaps, doch alles das half nichts gegen die wühlende Angst. Ruhelos rannte sie in ihrem Haus auf und ab. Wenn sie aus dem Fenster sah, konnte sie das Haus der Dagorskis sehen. Ein leeres Gebäude. Ein Spukhaus, seit der vergangenen Nacht.
Nervös zerknitterte sie ihr Taschentuch. Mehrmals putzte sie sich geräuschvoll die Nase. Dann stakte sie wieder durch den Raum. Tichon Sellnow saß stumm auf der Ofenbank und schaute ihr zu.
»Willst du nicht endlich aufhören, wie eine gereizte Tigerin auf und ab zu rennen, Valentina?«, knurrte er schließlich.
Valentina blieb stehen und schaute ihn fassungslos an. »Wie kannst du nur so ruhig dasitzen, Tichon? Geht dir das Schicksal unserer beiden Freunde denn kein bisschen ans Herz?«
»Aber ja…«
»Ich habe fast nicht den Eindruck…«
»Unsinn, Valentina. Mir geht die Sache genauso nahe wie dir.«
»Und doch sitzt du da, als wäre nichts geschehen.«
»Was soll ich denn machen? Mit dir auf und ab rennen? Das würde verflucht komisch aussehen.« Tichon nahm wieder einen Schluck Schnaps. Es war wirklich sehr schlimm, was geschehen war. Aber konnte man es ändern, wenn man hin und her lief?
»Tot«, sagte Valentina gepresst. »Alle beide sind tot.« Über ihrem Blick lag ein grauer, trauernder Schleier. »Ich kann es immer noch nicht fassen…«
Sie schaute ihren Mann an, kam langsam auf ihn zu, sah ihm ernst in die Augen. »Tichon…«
»Ja, mein Täubchen?«
»Wir beide wissen, wer Milda und Oleg umgebracht hat, nicht wahr?«
»Ich fürchte ja.«
»Die Miliz redet von zwei bedauerlichen Unfällen.«
»Die will keine Arbeit haben. Ein Unfall bringt für sie die wenigste Arbeit.«
Valentina Sellnowa setzte sich neben ihren Mann auf die Ofenbank. Sie rückte nahe an ihn heran. Er legte seinen langen Arm um ihre zitternde Schulter.
»Gestern noch…«, sagte sie heiser. »Gestern hat sie dir noch Vorwürfe gemacht …«
»Ja. Und ich war verdammt wütend auf sie. Ich hätte sie beinahe aus dem Haus geworfen.«
»Und heute ist sie tot«, stöhnte Valentina.
»So was geht sehr schnell.«
»Ich habe Angst, Tichon. Angst davor, dass auch wir Pech haben könnten…«
»Pech kann jeder Mensch haben, mein Täubchen.«
»Du weißt, wie ich das meine. Wir waren zu viert bei der weißen Frau. Heute sind nur noch wir beide übrig. Anja Plotkinowa handelt sehr schnell. Sie hat uns verflucht. Ich habe ihr Geschrei noch in meinen Ohren, Tichon. Es war grauenvoll…«
Sellnow drückte seine Frau fester an sich. »Du musst keine Angst haben, mein Täubchen. Ich werde auf dich aufpassen. Solange ich lebe, wird dir kein Leid geschehen.«
»Und wenn du… zuerst …? Bei den Dagorskis hat es
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