0043 - Die Geister-Lady
auch zuerst Oleg erwischt …«
»Wir sollten nicht an so etwas denken, Valentina.«
»Wir müssen!«, rief die junge Frau verzweifelt aus. »Wir müssen! Wir können nicht einfach den Kopf in den Sand stecken, Tichon. Wir müssen der Wahrheit ins grausame Auge sehen! Wir haben damit zu rechnen, dass die weiße Frau auch uns zu vernichten versucht. Warum sollte sie bei uns eine Ausnahme machen? Man erzählt sich, dass vor Milda und Oleg schon einige andere Leute auf unerklärliche Weise ums Leben gekommen sind. Man ist der Sache niemals nachgegangen, doch eines steht für mich fest: Diese Leute haben die weiße Frau gesehen! Wer sie sieht, hat Unglück. Wir, Tichon, wir haben sie gesehen. So wie Milda und Oleg sie gesehen haben. Seit gestern sind die beiden tot. Und ich frage mich, wann wir an die Reihe kommen!«
Valentinas Worte beunruhigten Sellnow. Er bat seine Frau, zu schweigen, doch sie bohrte und redete immer weiter. Da packte ihn mit einemmal die eiskalte Wut. Er griff nach der Schnapsflasche und schleuderte sie zornig durch den Raum. Sie donnerte gegen die Wand und zerplatzte in tausend Scherben. Der Wodka hinterließ einen riesigen Fleck an der Wand.
»Willst du mit deinem hysterischen Gejammer nicht endlich aufhören?«, brüllte Sellnow seine Frau gereizt an. »Ich kann es schon nicht mehr hören, Valentina!«
»Sie wird uns umbringen, ich weiß es.«
»Halt den Mund sag’ ich!«
»Anja Plotkinowa hält ihre Schwüre!«
»Still, Valentina! Still! Still! Still!«, schrie Tichon Sellnow mit roten Wangen.
»Du denkst, wenn wir nicht mehr darüber reden, ist diese Sache aus der Welt geschafft, wie?«
»Zwing mich nicht, dich zu verprügeln, Valentina!«
»Reden nimmt einem Menschen die Angst, Tichon. Wenn wir sagen, was uns bedrückt, tut es uns weniger weh, wie wenn wir es in uns behalten, denn dann beginnt es in unseren Eingeweiden zu nagen, so lange, bis wir innerlich von unserer Angst aufgefressen sind…«
Sellnow sprang auf und rannte zum Fenster. Seine Fäuste waren geballt. Beinahe wäre er über seine Frau hergefallen, um sie zu schlagen.
Himmel, wie weit war es mit ihnen schon gekommen. Mit stierem Blick starrte er in die Nacht hinaus. Und hinter ihm redete Valentina ununterbrochen weiter. Er hörte nicht hin, denn was sie sagte, machte ihm Angst. Er hörte zwar ihre Stimme, aber er bemühte sich nicht, zu verstehen, was sie sagte. Seit jeher hatte sie vernünftige Ansichten gehabt. Und was sie vorhin gesagt hatte, hatte ebenfalls etwas für sich. Die Angst herausreden. Es war besser, als sie hinunterzuschlucken. Und doch scheute sich Sellnow davor, es zu tun. Er wollte sich nicht ebenfalls in Valentinas Hysterie hineinziehen lassen, wollte es nicht, und war doch schon mittendrin…
Als er sich halbwegs beruhigt hatte, wandte er sich wieder um.
Valentina stand hinter ihm.
»Tichon«, sagte sie flehend. Ihre Augen schauten ihn in großer Sorge an.
»Verzeih mir, Valentina, dass ich vorhin so heftig war.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Ich habe es gehört, aber nicht verstanden.«
»Dann will ich es wiederholen, Tichon: Lass dich versetzen. Lass uns von hier fortgehen. Dieser Ort ist nicht mehr sicher genug für uns beide…«
»Du meinst, wir sollen vor der weißen Frau fliehen?«
»Ja.«
»Wie können wir vor einem Fluch fliehen, der in uns steckt? Wir würden ihn überallhin mitnehmen.«
Valentina rang flehend die Hände. »Lass dich auf irgendeine Sowchose versetzen. Weit weg von hier. Mir ist das mieseste Dorf recht. Ich werde niemals klagen. Lass uns von hier fortgehen, Tichon. Bitte. Wenn uns die weiße Frau nicht umbringt, dann tötet mich meine uferlose Furcht. Ich würde jede Arbeit in Kauf nehmen, jede Schufterei, wenn ich nur mit dir zusammenbleiben und weiterleben dürfte. Ich will nicht, dass dieser Fluch uns beide umbringt, Tichon. Und du willst das doch auch nicht! Du bist Holzfäller. Bäume gibt es überall in Russland. Reich ein Gesuch ein. Bitte um deine Versetzung, Tichon. Tu es uns zuliebe!«
Sellnow seufzte schwer. Er zog die Brauen zusammen und starrte auf den Boden. Fortrennen. Alles aufgeben. Es hatte doch keinen Sinn. Vor einem Fluch kann niemand weglaufen, aber das wollte Valentina nicht einsehen.
»Wirst du etwas unternehmen, Tichon?«, fragte seine Frau drängend. Da nickte er und versprach ihr in die zitternde Hand, dass er sich bemühen würde, aus der Gegend von Nowosibirsk wegzukommen.
Dann gingen sie zu Bett. Lange noch
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